Verbände können auf Schadensersatz zu Gunsten von Verbrauchern klagen
Die VK-RL ermöglicht Klagen von Verbänden gegen Unternehmen wegen angeblicher Verletzung einer der 66 in Anhang I VK-RL genannten EU-Rechtsquellen. Die Klagen können auf Abhilfe (inkl. Schadensersatz), Unterlassung oder Feststellung gerichtet sein.
Die Definition des klagefähigen Verbandes ist weit. In Frage kommen alle juristischen Personen, die keinen Erwerbszweck verfolgen und seit mindestens einem Jahr zum Schutz von Verbraucherinteressen tätig sind (Art. 4(3) VK-RL).
Besonders schwerwiegend ist das neue Klageziel der Abhilfe. Hierunter fallen nicht nur Nacherfüllung, Minderung oder Rückabwicklung (Art. 9 Abs. 1 VK-RL), sondern vor allem auch Schadensersatz. Diese kollektive Direktklage auf Schadenersatz kann für Unternehmen zu erheblichen finanziellen Prozessrisiken führen.
Der Katalog der in Anhang I VK-RL genannten 66 Rechtsquellen aus dem EU-Sekundärrecht geht weit über die im deutschen Zivilprozess bereits bekannte Unterlassungsklage von Verbraucherschutzverbänden hinaus. Auch besteht das Risiko, dass Verbände argumentieren, sie könnten sich „erst recht“ auf das EU-Primärrecht berufen.
Die Bindung von Verbrauchern ist offen: opt-out, frühes opt-in oder spätes opt-in?
Der womöglich größte Vorteil von class actions für Unternehmen in den USA ist die Verfahrensbündelung. Sie bietet Verfahrenseffizienz und Rechtssicherheit. Grundsätzlich wirkt eine class action-Entscheidung gegenüber allen, die sich nicht explizit gegen einen Einschluss verwahrt haben (opt out). Dies bedeutet: gewinnt ein Unternehmen eine class action vollständig oder teilweise, ist es vor weiteren Klagen geschützt.
Das Gegenmodell – opt in – resultiert demgegenüber zwar in geringeren Streitwerten, kann aber für das Unternehmen belastender sein. Es schützt nicht vor weiteren Klagen und erschwert oft eine Lösung durch Vergleich.
Wie die EU-Verbandsklage funktionieren wird, ist offen. Sie begrenzt die subjektive Rechtskraft zwar auf Verfahrensparteien (Art. 15 VK-RL). Ob Verbraucher aber per opt out– oder opt in– Verfahrenspartei werden, überlässt die VK-RL den nationalen Gesetzgebern (Art. 9 Abs. 2 VK-RL).
Besondere Brisanz erhielt die Thematik durch zwei Gutachten. Beide sprechen sich für opt in– aus. Das erste Gutachten (Prof. Dr. Beate Gsell und Prof. Dr. Caroline Meller Hannich, im Auftrag Bundesverband Verbraucherzentralen) schlägt ein sog. „spätes opt in“ vor. Falls der Verband gewinnt, sollen Verbraucher sogar noch nach dem Urteil „aufspringen“ können. Um sich bis dahin alle Möglichkeiten offen halten, würde vor dem Urteil kein Anreiz für Verbraucher bestehen, sich zu entscheiden. Beim „späten opt in“ drohen Unternehmen also unkalkulierbare Schadenssummen im Falle des Unterliegens. Im Falle des Obsiegens wären Unternehmen nicht vor Klagen anderer Verbände geschützt. Das zweite Gutachten (Prof. Dr. Alexander Bruns, im Auftrag vom BDI und anderen Industrieverbänden) schlägt ein opt in bis spätestens zum ersten Tag der mündlichen Verhandlung vor, wie auch bei der Musterfeststellungsklage (§ 608 Abs. 1 ZPO). Dieses Modell verhindert, dass sich die Schadenssumme noch nach dem Urteil erhöhen. Es schützt jedoch nicht vor Klagen anderer Verbände.
Der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums für das Umsetzungsgesetz spricht sich für letztere Lösung aus.
Ob Verbände die Klägergerichtsstände der Brüssel I-VO nutzen können, ist offen
In den USA wurde die Entwicklung der class action davon begleitet, dass Klägergerichtsstände und forum shopping zum Schutz beklagter Unternehmen eingeschränkt wurden (u.a. Class Action Fairness Act).
Die VK-RL schweigt zum Thema internationale Zuständigkeit. Verbände werden argumentieren, dass der klagende Verband eine Wahlmöglichkeit zwischen allen nach der Brüssel I-VO möglichen Gerichtsstände hat. Insbesondere der Gerichtsstand am Wohnsitz des Verbrauchers (Art. 18 Brüssel I-VO) oder die in der Praxis häufig als Klägergerichtsstände wirkenden Gerichtsstände für vertragliche und deliktische Klagen (Art. 7 Abs. 1, 2 Brüssel I-VO) können forum shopping erleichtern.
Prof. Dr. Bruns ist in seinem Gutachten der Auffassung, die besonderen Gerichtsstände der Brüssel I-VO seien ohnehin nicht auf Verbandsklagen anwendbar. Jedenfalls aufgrund der Entscheidung des EuGHs in Rs. C-343/19 vom 9. Juli 2020 (VW), in welcher der EuGH einem Zessionar zubilligte sich i.R.d. Deliktsgerichtsstands auf den Sitz des Zedenten zu berufen, ist zu erwarten, dass die Frage erst durch den EuGH entschieden werden wird. Die Folgen sind für Unternehmen Rechtsunsicherheit und erhebliche Prozesskosten.
Die VK-RL bietet keinen Schutz vor parallelen Verbandsklagen
Ein erhebliches Problem für Unternehmen wird es sein, parallele Verbandsklagen zu verhindern, also solche die zwar den gleichen Klagegrund haben, aber von verschiedenen Verbänden und in verschiedenen Staaten geführt werden. Die VK-RL enthält keine Rechtshängigkeitsregeln. Die einzig relevante Regelung ist die beiläufige Erwähnung „andere[r] Verbandsklagen dieser Art aus demselben Klagegrund“ in Art. 9(4) VK-RL, welcher regelt, dass ein Verbraucher sich nur einer Klage anschließen kann.
Für Unternehmen besteht somit Rechtsunsicherheit und die Notwendigkeit sich auf parallele Verfahren einzustellen. Voraussichtlich wird auch dieser Problemkomplex vom EuGH zu klären sein.
Die VK-RL schafft keine discovery US-amerikanischen Stils, könnte aber Anlass für eine über die bisherige ZPO hinausgehende Herausgabepflicht sein
Art. 18 VK-RL enthält eine Vorschrift zur „Offenlegung von Beweismitteln“ (Überschrift). Deshalb ist der Begriff discovery in letzter Zeit häufig bezüglich der VK-RL zu lesen. Eine weite discovery US-amerikanischen Ausmaßes droht deutschen Unternehmen durch die VK-RL nicht, gleichwohl mögliche Neuerungen auf die Unternehmen sich einstellen sollten.
Der erste Unterschied zwischen discovery und Art. 18 VK-RL ist, dass letzterer nur die Dokumentenherausgabe im Prozess regelt (die Vorschrift erfordert, dass die bereits vorgelegten Beweismittel „zur Stützung einer Verbandsklage ausreichen“). In den USA sind Dokumentenherausgaben hingegen bereits vor Klageerhebung üblich (pre-trial discovery). Damit bleiben europäischen Unternehmen vorerst Szenarien erspart, in denen hohe discovery-Verfahrenskosten mangels Möglichkeit zum Kostenregress bereits in frühen Verfahrensstadien massiven Vergleichsdruck auslösen.
Die inhaltliche Reichweite der Dokumentenherausgabe ist offen. Während die US-amerikanische discovery regelmäßig den Zugriff auf regelrechte Datenräume ermöglicht, spricht Art. 18 VK-RL lediglich von „zusätzliche[n] Beweismittel[n]“ und des Vorbehalts „nationaler Vorschriften über […] Verhältnismäßigkeit“. In Deutschland besteht gegenwärtig eine begrenzte Herausgabepflicht nach § 142 Abs. 1 S. 1 ZPO (Herausgabe genau bezeichneter Urkunden) bzw. nach materiellen Vorschriften. Ob der Gesetzgeber diese Regeln für Verbandsklagen beibehalten wird und ob eine Beibehaltung vor dem EuGH Bestand haben würde, ist offen. Wenn Deutschland bei seinen strengen Vorschriften bleibt, würde dies Klagen in anderen EU-Mitgliedstaaten attraktiver machen, welche Art. 18 VK-RL weitergehend umsetzen.
Ein weiterer Problemkreis ist die Vertraulichkeit von Dokumenten. Die VK-RL enthält keine Regelungen zu Herausgabeverweigerungsrechten. Verbände könnten gezielt dort klagen, wo z.B. in-house– oder Compliance-Dokumente nicht geschützt sind. Unternehmen könnten dann Nachteile durch die eigene interne Aufarbeitung, z.B. im Rahmen einer internal investigation drohen. Auch enthält Art. 18 VK-RL keine Regelung, dass herausgegebene Dokumente nicht an Dritte wie andere Kläger oder die Presse weitergegeben werden dürfen.
Prozessfinanzierungen von Verbandsklagen sind möglich
Die EU-Verbandsklage könnte aufgrund der möglicherweise hohen Schadensersatzsummen Prozessfinanzierer und sogenannte Klägerkanzleien, die auf Erfolgshonorarbasis tätig sind, anziehen. Dies könnte die Zahl, die Komplexität und den Vergleichsdruck von Verbandsklagen für Unternehmen erhöhen.
Die VK-RL überlässt die Regulierung insoweit dem nationalen Recht und verlangt lediglich, dass die Kollektivinteressen der Verbraucher „nicht aus dem Fokus“ geraten dürfen (Art. 10 Abs. 1 VK-RL). Einer Kommerzialisierung steht das jedoch nicht zwingend entgegen. Eine europarechtliche Regelung, die Unternehmen vor möglichem Vergleichsdruck bei prozessfinanzierten Verbandsklagen mit hohen Schadensersatzsummen schützt, besteht hingegen nicht.
Kernaussagen
- Die EU-Verbandsklage ermöglicht Verbänden Klagen u.a. auf Schadensersatz wegen Verletzung von 66 EU-Rechtsquellen zugunsten von Verbrauchen. Hierdurch können Unternehmen Massenverfahren mit hohen Streitwerten drohen.
- Es bleibt dem nationalen Gesetzgeber überlassen, ob die Bindung von Verbrauchern an die Entscheidung durch ein opt out– oder ein (frühes oder spätes) opt in-Modell erfolgt. Die Ausgestaltung wird fundamentale Bedeutung für Unternehmen haben.
- Da die Verbandsklagen-Richtlinie die internationale Zuständigkeit nicht regelt, wird höchstwahrscheinlich erst der EuGH Rechtssicherheit für Unternehmen schaffen, ob die – häufig klägerfreundlichen – Gerichtsständen der Brüssel I-VO auch bei der neuen Verbandsklage gelten. Ein europaweites forum shopping scheint zumindest nicht ausgeschlossen.
- Durch die Verbandsklage droht keine discovery US-amerikanischen Ausmaßes. Ob die Dokumentenherausgabe zumindest über die bisherigen Regeln der ZPO hinausgehen wird, hängt vom nationalen Gesetzgeber und womöglich vom EuGH ab.