JUVE: Vor 30 Jahren haben praktisch alle damals großen Kanzleien ein Büro in Sachsen oder Thüringen aufgemacht, obwohl die Privatwirtschaft am Boden war. Heute ist kaum noch eine da, obwohl die Wirtschaft viel stabiler ist als damals. Würden Sie Kanzleien raten, nun wieder nach Leipzig oder Erfurt zu gehen?
Dr. Wolfgang Weisskopf: Es ist tatsächlich schwierig, einer großen Kanzlei aus den alten Bundesländern zu empfehlen, wieder oder erstmals eine Niederlassung in Leipzig oder Erfurt zu eröffnen. In Zeiten von Homeoffice und Co-Working-Spaces ist allein schon wegen der stark veränderten Kommunikationsmittel bei großen Beratungsfällen eine räumliche Präsenz vor Ort in den letzten 30 Jahren nicht wichtiger geworden.
Nach meiner Auffassung ist es grundsätzlich nur dann sinnvoll ein Büro vor Ort zu eröffnen, wenn es das Mandat oder die Mandantschaft verlangt. Und es muss für die Kanzlei wirtschaftlich gerechtfertigt sein.
Die Kanzleien, die vor 20 Jahren die Platzhirsche waren, sind es heute immer noch. Nur dass die entscheidenden Leute wie Sie nun alle über 60 sind. Warum kommt da nichts nach?
Ich würde nicht generell sagen: „Da kommt nichts nach.“ Tatsächlich ist es aber wegen der demografischen Entwicklung in ganz Deutschland schwieriger geworden, geeigneten Nachwuchs zu rekrutieren.
In den neuen Ländern kommt hinzu, dass beispielsweise der Raum Leipzig/Halle und erst recht Erfurt natürlich in ihrer Strahlkraft nicht mit Berlin oder anderen großen Ballungsräumen in Deutschland zu vergleichen sind. Im Kleinen könnte man sagen: Stadt ist attraktiver als Land, ohne dass ich sagen will, die neuen Länder seien Provinz. Es gibt hier aber deutlich weniger große Städte und Ballungsräume.
Wenn Sie zaubern könnten: Welchen Zuschnitt hat die ideale Kanzlei für Ostdeutschland?
Die ‚ideale Kanzlei‘ müsste eine visible Größe haben. Sie muss zwar nicht in ganz Deutschland bekannt sein, aber jeder, der sich mit der Region beschäftigt, muss automatisch auf sie stoßen. Aus heutiger Sicht wäre das wohl eine Größe von rund 20 bis 30 Berufsträgern.
An welchem Ort oder welchen Orten würde die Kanzlei ihren Sitz haben?
Ich glaube nach wie vor, dass Erfurt und Thüringen genauso wie Leipzig und Sachsen gute Standorte sind. Man muss die wirtschaftliche Entwicklung dieser Regionen mit den Regionen in Deutschland vergleichen, mit denen sie auch vergleichbar sind. Erfurt und Thüringen sind nun einmal nicht Frankfurt und Hessen, Leipzig und Sachsen sind nicht Stuttgart und Baden-Württemberg. Man muss uns kanzleitechnisch mehr mit Mainz und Rheinland-Pfalz oder vielleicht Hannover und Niedersachsen vergleichen.
Würden Sie jungen Wirtschaftsanwälten und -anwältinnen dennoch raten, sich in Ostdeutschland niederzulassen?
Ja. Wichtige Städte wie Leipzig, Dresden, Erfurt und Jena haben sich in den vergangenen Jahren wirtschaftlich positiv entwickelt. Und vor allem stehen sie auch mit Blick auf die Generationsfolge vor einem Umbruch. Viele Juristen, die nach der Wiedervereinigung aus dem Westen kamen und blieben, gehen in den Ruhestand, sodass in den nächsten Jahren nicht nur in Justiz und Verwaltungen, sondern auch bei den Kanzleien – über den demografischen Faktor hinaus – ein enormer Ersatzbedarf an Nachwuchs besteht.
Das Interview stammt aus der aktuellen Ausgabe 05/2023 des JUVE Rechtsmarkt.