JUVE: Beim Deutschen Juristentag wollten Sie Vorschläge für Neureglungen im Beschlussmängelrecht sowohl für Aktiengesellschaften, als auch für GmbHs, Vereine, Genossenschaften und Personengesellschaften und sonstige Organe erarbeiten. Ein sehr ambitioniertes Programm…
Jochen Vetter: Ja, es war ambitioniert, solch einen großen Bogen zu spannen. Aber indem wir das Thema Beschlussmängelrecht über das Aktienrecht hinaus ausgeweitet haben, wurde Zweierlei deutlich: Zum einen ist der Reformbedarf bei anderen Rechtsformen, insbesondere der GmbH und den Personenhandelsgesellschaften, noch deutlich größer als im Aktienrecht. Zum anderen ist es richtig und wichtig, rechtsformübergreifend zu denken und allgemeine Grundsätze herauszuarbeiten, um dann zu überlegen, inwieweit diese rechtsformspezifisch anzupassen sind.
Die jeweilige Grundlage für das Beschlussmängelrecht ist bei den verschiedenen Rechtsträgern ja sehr unterschiedlich – die Gesellschafterversammlung bei einer GbR oder GmbH ist lange nicht so ritualisiert und umfangreich dokumentiert wie eine Hauptversammlung bei einer börsennotieren AG. Lassen sich diese überhaupt miteinander vergleichen?
Ja, das stimmt – die Beschlussverfahren einschließlich der Versammlungsleitung unterscheiden sich bei den unterschiedlichen Rechtsformen erheblich; entsprechend unterscheiden sich die Gründe, auf die eine Anfechtung gestützt werden kann. Trotzdem kam die Abteilung mit klarer Mehrheit zu dem Schluss, dass Ziel von Reformbemühungen ein einheitliches rechtsformübergreifendes Beschlussmängelrecht sein sollte, das allerdings Raum für rechtsformspezifische Besonderheiten lässt.
Was sind die wesentlichen Defizite des geltenden Beschlussmängelrechts?
Die Probleme des Beschlussmängelrechts dürfen nicht auf einen tatsächlichen oder angeblichen Missbrauch des Klagerechts verkürzt werden. Vielmehr ergibt sich der gesetzliche Webfehler aus der Kombination von drei Aspekten. Erstens: Jeder Aktionär hat ein Klagerecht, mit dem ihm eine Polizistenfunktion zugewiesen wird. Zweitens: Jede erfolgreiche Anfechtungsklage führt dazu, dass ein Beschluss kassiert wird. Und drittens: Die Beschlussmängelverfahren dauern zu lange. Die Gesetzeslage hat zur Folge, dass auch Anfechtungsklagen, die sich nach mehreren Jahren als unbegründet erweisen, in der Zwischenzeit eine erhebliche Rechtsunsicherheit und häufig sogar Blockade des Unternehmens zur Folge gehabt haben. Bei den sonstigen Rechtsformen kommt die große Rechtsunsicherheit aufgrund des Fehlens jeglicher Regelungen hinzu.
Der Gesetzgeber ist dieses Problem mit dem sogenannten Freigabeverfahren angegangen…
Richtig. Das Freigabeverfahren beschränkt nicht die Möglichkeit jedes einzelnen Aktionärs, Hauptversammlungsbeschlüsse gerichtlich überprüfen zu lassen; die Rechtsfolge ist aber eben nicht zwingend die Nichtigkeit des Beschlusses, sondern gegebenenfalls „nur“ die Feststellung der Rechtswidrigkeit und Schadensersatz. Allerdings ist das Freigabeverfahren einerseits auf bestimmte eintragungsbedürftige Beschlüsse und andererseits die AG beschränkt. Selbst bei der GmbH ist nach wie vor umstritten, ob diese praktisch eminent wichtigen Regelungen anwendbar sind.
Was wären die wichtigsten Grundelemente eines solches Beschlussmängelrechts?
Ein recht weitgehender Konsens ließ sich bei folgenden Punkten feststellen: Fehlerhafte Beschlüsse sollten nicht alternativlos zur rückwirkenden Nichtigkeit führen. Stattdessen sollten alternative Rechtsfolgen zur Verfügung stehen, die jedenfalls die Möglichkeit zu einer Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft, die Gewährung von Schadensersatz und die Feststellung der Rechtswidrigkeit umfassen sollten. Maßstab für die Entscheidung über die angemessene Rechtsfolge sollte eine Abwägung von Nutzen und Gefahren einer Anerkennung des Beschlusses für die Gesellschaft und ihre Gesellschafter sowie die Schwere des Rechtsverstoßes sein. Eine, wenn auch weniger deutliche Mehrheit will darüber hinaus jedenfalls bei der AG berücksichtigen, in welcher Höhe ein Kläger am Unternehmen beteiligt ist. Besonders wichtig ist aus unserer Sicht die klare Empfehlung an den Gesetzgeber, die Relativierung der Kassationsfolge auf alle Gesellschafterbeschlüsse zu erstrecken.
Wird damit nicht eine unnötige Komplexität für den Mittelstand geschaffen?
Nein, ganz im Gegenteil. Die gerichtliche Möglichkeit zur Geltendmachung von Beschlussmängeln gibt es heute schon bei jeder Rechtsform, nur dass man eben nicht immer genau weiß, was man als Kläger in welcher Frist zu machen hat. Wir wollen keine zusätzlichen Klage- und Blockademöglichkeiten, sondern einen klaren Rechtsrahmen schaffen. Durch die Abkehr von der zwingenden Einheitsfolge der Beschlusskassation wird für die Unternehmen die Rechts- und Planungssicherheit erhöht und damit Komplexität vermindert.
Sie haben sich auch mit dem Spruchverfahren befasst. Warum wollen Sie das Spruchverfahren für Sachkapitalerhöhungen öffnen?
Die Sachkapitalerhöhung, insbesondere der Erwerb eines großen Unternehmens durch Bezahlung in Aktien, ist vielleicht der plastischste Beispielfall für die Unzulänglichkeiten des geltenden Beschlussmängelrechts. Denken Sie einmal an den Erwerb von Monsanto durch Bayer zu einem Barkaufpreis von rund 60 Milliarden Euro. Ein solcher Erwerb muss für deutsche Unternehmen, ebenso wie für ihre ausländischen Konkurrenten, durch die Gewährung von Aktien möglich sein. Zwar steht seit einigen Jahren auch für Sachkapitalerhöhungen erfreulicherweise das Freigabeverfahren zur Verfügung; mangels Spruchverfahrens müssen in der Anfechtungsklage und dem Freigabeverfahren allerdings auch alle Bewertungsrügen abgehandelt werden. Hier besteht in der Praxis die Sorge, dass ein erfolgreiches Freigabeverfahren nicht in überschaubarer Zeit erfolgreich abgeschlossen werden kann.
Viele gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzungen, gerade bei Familiengesellschaften, werden in Schiedsverfahren beigelegt. Sollen diese durch ein verbessertes Beschlussmängelrecht für GmbHs in die staatliche Gerichtsbarkeit überführt werden?
Nein, das ist nicht unsere Absicht. Im Gegenteil haben wir auf dem Juristentag intensiv diskutiert, ob die Möglichkeit, Beschlussmängelstreitigkeiten vor Schiedsverfahren zu führen, nicht beispielsweise auch für die AG eröffnet werden sollte. Eine klare Mehrheit hat sich dafür ausgesprochen. Viele unserer Vorschläge, beispielsweise zur Flexibilisierung der Rechtsfolgen fehlerhafter Beschlüsse, wären im Übrigen ja auch von Schiedsgerichten zu beachten.
Muss das Beschlussmängelrecht gerade im Hinblick auf die oft stark prägende Rolle von Aufsichtsräten nicht auch für sonstige Organe gesetzlich neu geregelt werden?
Das ist zutreffend. Gerichtliche Streitigkeiten über die Wirksamkeit von Beschlüssen sonstiger Organe sieht man in der Praxis allerdings recht selten. Ein besonderer Leidensdruck der Unternehmen scheint hier noch nicht zu bestehen. Konzeptionell ändert dies aber nichts daran, dass auch in diesem Bereich eine erhebliche Rechtsunsicherheit besteht, die unbefriedigend ist. Bei einer Reform des Beschlussmängelrechts sollten daher auch andere Gesellschaftsorgane mit in den Blick genommen werden.
Das Gespräch führte Sonja Behrens.