Hintergrund Interview

„Big Law trägt nicht zur Gerechtigkeit bei“

Die US-Regierung greift den Rechtsstaat auf allen Ebenen an. Die Chicagoer Anwältin Rachel Cohen wurde durch ihre öffentliche Kündigung bei Skadden eine der ersten Stimmen des Widerstands. Im Gespräch mit JUVE erklärt sie, was sie antreibt, was ihr Angst macht und warum sie die Hoffnung trotz allem nicht aufgibt.

von Astrid Jatzkowski

Rachel Cohen wurde im Estrel Convention Center Berlin fotografiert.

JUVE: Rachel, wie fühlt es sich an, mit 31 ­Jahren eine Ikone des Widerstands zu sein?
Rachel Cohen:
Ich versuche immer noch herauszufinden, ob ich das tatsächlich bin. Die plötzliche Aufmerksamkeit ist seltsam, weil ich nicht einschätzen kann, wie viele Menschen mich überhaupt kennen. Für mich und meine Freunde ist es bedeutend, aber im größeren Kontext weiß ich es nicht. Es ist überwältigend, aber auch erfüllend – und ich bin dankbar für meine engen Freunde, Mentoren und meine Familie, die mir Halt geben.

Wie haben Sie sich Ihre Karriere ursprünglich vorgestellt?
Ich wollte nur ein paar Jahre in einer Kanzlei arbeiten, um Geld zu verdienen und die Privatwirtschaft kennenzulernen. Danach plante ich, in die öffentliche Verwaltung oder eine gemeinnützige Organisation zu wechseln.

Warum nach Harvard überhaupt eine Kanzlei?
Ich wollte den privaten Sektor besser verstehen, aber auch wegen der finanziellen Aspekte. Mein Jurastudium war teuer, und ich habe noch immer hohe Schulden.

Aber Ihre Ambitionen gingen weiter?
Ja, ich wollte das System gerechter machen – besonders für benachteiligte Gruppen. Harvard hat mir viele Möglichkeiten eröffnet, und ich engagiere mich für Themen wie Einwanderung, Bildung und den Zugang zu Abtreibung. Dass ich mich nun auch mit der Demokratie und dem Schutz von Anwaltskanzleien vor Übergriffen der Regierung befasse, war nicht geplant – aber es hängt alles zusammen.

Sie haben Ihre Kündigung bei Skadden an alle Mitarbeitenden geschickt. Sie hätten das auch still tun können. Was hat Sie so wütend gemacht, dass Sie gesagt haben: Ich will, dass alle es wissen?
Nun, es war nicht aus Wut, aber natürlich war ich frustriert über das Nichtstun der Kanzlei. Ich wollte ein Zeichen setzen. Ich wollte meine E-Mail an die ganze Kanzlei schicken, weil viele Kollegen und Kolleginnen sich im Flüsterton fragten: „Was passiert hier eigentlich?“ Viele Associates wollten Gespräche mit dem Management, weil sie Angst hatten und fanden, dass wir als Branche Stellung beziehen sollten. Ich hatte bereits vor meiner Kündigung die Veröffentlichung eines offenen Briefes organisiert, der die Branche aufforderte, sich gegen die Angriffe auf das Rechtssystem zu stellen. Ich wollte zeigen: Ihr seid nicht allein mit euren Sorgen.

Wann war für Sie der Punkt erreicht, an dem Sie nicht mehr bleiben konnten?
Ich hatte intern alles versucht. Auf dem Heimweg im Bus wurde mir klar: Ich muss kündigen. Ich schrieb meiner Freundin aus dem Jurastudium, ob sie meine Kündigung lesen könne. Sie fragte nur: „Ich hatte zwei Gläser Wein – ist das okay?“ Ich sagte: „Ja.“

Vielleicht hat es sogar geholfen …
(Lacht) Vielleicht. Ich rief meine Eltern an, befragte sie aber nicht zu meinen Karrierenachteilen, sondern ob man mir vorwerfen könnte, ich hätte mich intern nicht genug eingesetzt. Würden Leute es lächerlich finden oder würde es hilfreich sein? Mein Vater sagte: „Ich weiß nicht, was es für deine Karriere bedeutet, aber es wird helfen.“ Dann kaufte ich mir eine Flasche Wein, rief drei Kollegen an und sagte: „Ihr bekommt gleich eine E-Mail.“

Also ziemlich direkt …
Was mich endgültig dazu brachte: Ich wollte gerade auf ‚Senden‘ klicken und sah, dass der Executive Partner und der Managing-­Partner nicht im System eingeloggt waren. Das war für mich das Zeichen: Sie wissen längst, was sie tun werden – und sie sagen es uns nicht. Da wusste ich: Sie werden den Deal machen.

Und was geschah dann?
Zwei Dinge passierten sofort: Meine Freundin, der ich gesagt hatte, dass ich kündigen werde, schickte mir eine Sprachnachricht mit: „Oh mein Gott, du meintest das wirklich ernst.“ Und ich sah, wie sich der Managing-Partner und der Executive-Partner sofort im internen System einloggten und einem Meeting beitraten.

Und zwei Stunden später waren Sie aus Ihrem Account ausgesperrt.
Komplett.

Ich hoffe, sie wurden wenigstens korrekt bezahlt?
Ja, bis zum Ende der Kündigungsfrist.

Was hat Sie geleitet?
Ich habe mich gefragt: Wenn ich in 20 Jahren mit den Kindern meiner Freunde spreche und sie fragen: „Was hast du damals getan?“, will ich ehrlich antworten können. Ich wollte nicht lügen oder mich schämen müssen. Und ich sah viele, die ähnlich dachten, aber nichts taten. Irgendwann fragt man sich: Warum macht niemand etwas? Und dann merkt man – ich muss etwas tun. Deshalb habe ich die E-Mail auch an das nicht anwaltliche Personal wie Paralegals und Sekretärinnen geschickt.

Warum?
Weil sie schlechter bezahlt und weniger geschützt sind. Ich wusste, dass sie sich fragten: Warum steht niemand für uns ein? Und ich bekam sehr bewegende Rückmeldungen von ihnen.

War das der Grund, um Ihre Kündigung öffentlich zu machen?
Teilweise. Der Auslöser war aber vor allem, dass Paul Weiss einen Deal mit Trump einging. Da war mir klar: Es wird keine gemeinsame Reaktion der Großkanzleien geben.

Haben Sie nach der Veröffentlichung Hassnachrichten oder schlimme Reaktionen erhalten?
Kaum. Meine Mutter hat alles gelesen und schrieb mir: „Ich streite mich gerade mit einer Frau in deinen LinkedIn-Kommentaren.“ Ich meinte nur: „Mama, es gibt tausend Kommentare – ich weiß nicht mal, worüber du redest.“ Manche meinten, mein Verhalten sei privilegiert, weil es derzeit schwer sei, überhaupt einen Job zu bekommen. Aber Drohungen gab es keine.

In Europa hat man den Eindruck, dass es keine echte politische Opposition gibt. Sie haben vor einem Ausschuss ausgesagt – hatte das Folgen?
Selbst die Anhörung war nur eine sogenannte „Schattenanhörung“, weil sie von der demokratischen Minderheit organisiert wurde. Eine Frage, die mir auch schon hier in Berlin gestellt wurde, war: Warum gibt es nicht mehr Proteste?

Genau das frage ich mich auch.
Es gibt viele Proteste – sie werden nur kaum berichtet. Am 14. Juni, Trumps Geburtstag, ist eine große Demo geplant: „No Kings“. Aber es stimmt, dass die demokratische Führung sehr schwach reagiert. Viele Menschen sind entmutigt, weil Proteste scheinbar nichts bewirken – auch bei den Kanzleien war das so.

Wie erklären Sie sich die aktuelle Lage?
Viele in Machtpositionen wollen nicht anerkennen, wie ernst die Lage ist – das würde grundlegende Reformen erfordern. Trumps Wahlerfolg basiert auf echter sozialer Angst. Doch die Demokraten sagten nur: „Trump ist schlecht“, während viele Menschen dachten: „Aber mein Leben ist auch ohne ihn nicht gut.“

Ein Beispiel?
Offiziell lag die Arbeitslosigkeit bei 4 Prozent, aber realistisch – wenn man prekär Beschäftigte und Aufgegebene mitzählt – eher bei 25 Prozent. Trotzdem wurde behauptet, die Wirtschaft sei stark. Eine echte Alternative würde tiefgreifende Veränderungen im Kapitalismus erfordern – und die scheut die Parteiführung.

Also Frustration?
Ja. Es gab ja in den vergangenen Jahren immer wieder viele Proteste, etwa 2020 gegen Rassismus – größer als in den 1960er-Jahren. Doch es folgte kaum politische Veränderung. Das hat viele entmutigt. Es fehlt an politischem Willen, auf die Menschen zu hören.

Aber die Richter scheinen standhaft zu bleiben. Sind sie das letzte Bollwerk des Rechtsstaats?
Ja, sie sind derzeit die wichtigste institutionelle Schutzmauer. Die Anwaltskanzleien haben gezeigt, dass der Privatsektor diese Rolle nicht übernimmt – im Gegenteil, er ist oft Teil des Problems. Tech-Milliardäre unterstützen Trump, um Regulierung und Steuern zu vermeiden. Die Justiz ist die einzige Gewalt, die den Rechtsstaat noch verteidigt. Deshalb greift Trump sie so massiv an – zuerst die Anwälte, jetzt will er sogar Mittel für Richter kürzen. Und er ließ kürzlich eine Richterin in Wisconsin verhaften – Hannah Dugan.

Wenn selbst Anwälte nicht standhalten – worauf kann man hoffen?
Auf Basisbewegungen. Aber dafür braucht es Zeit – und genau das will Trump mit seinem Tempo verhindern. Die Justiz ist entscheidend, um Zeit zu gewinnen.

„Natürlich war ich frustriert über das Nichtstun der Kanzlei.“

Wann wurde Ihnen klar, dass Kanzleien ins Visier geraten?
Ein erstes Signal war eine Executive Order gegen Covington & Burling Ende Februar, noch vor der gegen Perkins Coie. Ich hatte sie zunächst ignoriert, aber als ich beide las, wurde mir klar: Viele in Kanzleien lesen diese Dinge gar nicht. Und selbst wenn – sie sehen die Zusammenhänge nicht. Besonders beunruhigend war eine Order zur Streichung der Studienkredit-Erlas­se für Menschen im öffentlichen Dienst. Betroffen wären etwa Organisationen, die sich für Geflüchtete, trans Jugendliche oder Obdachlose einsetzen – oder die sich mit Palästina-­Solidarität beschäftigen. Es war offensichtlich: Die Regierung will Kanzleien einschüchtern, damit sie keine unliebsamen Mandate mehr übernehmen – besonders im Asylrecht.

Viele Kanzleien rechtfertigen ihre Deals mit der Regierung mit dem Wohl der Mandanten oder Mitarbeitenden. Was denken Sie – geht es nur ums Geld?
Ja. Es geht ums Geld. Um ehrlich auf das System zu blicken, müssten sie zugeben, dass ‚Big Law‘ nicht zur Gerechtigkeit beiträgt. Sie müssten sich fragen: Warum ist es für mich existenziell, jedes Jahr Millionen zu verdienen – während andere um ihre Grundrechte fürchten? Diese Selbstreflexion findet nicht statt. Stattdessen hoffen sie, dass sich alles mit der nächsten Wahl löst.

Was sind aus Ihrer Sicht die schlimmsten Folgen solcher Deals?
Langfristig schwächen sie den Rechtsstaat – nicht nur in den USA, sondern weltweit. Wenn Kanzleien autoritären Regierungen kostenlose Rechtsberatung geben und gleichzeitig bestimmte Mandate meiden, senden sie ein fatales Signal: Rechtsstaatlichkeit ist verhandelbar. Das untergräbt Demokratie und Verfassungsrechte.

Ihr ehemaliger Arbeitgeber hat doch ein Pro-bono-Projekt übernommen, das nicht zu Trumps Agenda passt.
Nein, das war ein bereits laufendes Mandat. Vielmehr gibt es viele Hinweise, dass Kanzleien gebeten werden, sich in Sorgerechtsfällen für Kapitolstürmer einzuschalten oder Klagen gegen Affirmative Action zu unterstützen. Offiziell hat die Trump-Regierung das Justizministerium angewiesen, Kanzleien pro bono zu beauftragen, um Polizisten zu verteidigen, die Menschen getötet haben – ein klarer Versuch, die juristische Landschaft zu beeinflussen.

Diese Deals entsprechen wohl kaum den berufsethischen Standards?
Vermutlich nicht. Aber das größere Problem liegt tiefer – in der Kultur der Branche.

JUVE-Redakteurin Astrid Jatzkowski im Gespräch mit Rachel Cohen am Rande des Deutschen Anwaltstags Anfang Juni in Berlin.

Was ist Ihrer Meinung nach schiefgelaufen?
Es ist der amerikanische Kapitalismus in seiner extremen Form: kaum Regulierung, viel Bürokratie und eine tief verankerte Kultur des Individualismus. Viele glauben, sie müssten alles allein schaffen – das schwächt den kollektiven Widerstand. Und wenn man denkt, man schulde niemandem etwas, warum sollte man dann für Gerechtigkeit oder den Rechtsstaat Risiken eingehen?

Das klingt ziemlich hoffnungslos.
Ich glaube trotzdem, dass Veränderung möglich ist – aber nur, wenn wir ehrlich über die Ursachen sprechen.

Gibt es die Chance, dass Trump sich selbst überschätzt?
Nein. Das ist die Hoffnung der Demokraten – aber sie ist trügerisch. Trump vermittelt das Gefühl von Veränderung, auch wenn sie rückschrittlich ist. Die Demokraten bieten oft nur Stillstand. Solange sie keine glaubhafte Alternative präsentieren, bleibt Trump für viele attraktiv.

Sie haben Initiativen gestartet, etwa gegen Kanzlei-Recruiting und gegen Anwälte in NGO-Vorständen. Gibt es Erfolge?
Ja, es gibt viel Engagement. Viele Associates schreiben E-Mails, in denen sie Partner direkt konfrontieren. Manche Kanzleien erhalten Hunderte Nachrichten. Auch wenn nicht alle NGOs sofort reagieren – es geht darum, Aufmerksamkeit zu schaffen. Beim Recruiting ist der Druck ebenfalls spürbar, auch wenn keine Zahlen veröffentlicht werden.

Was planen Sie als Nächstes?
Wir bereiten ethische Beschwerden vor – etwa wenn Kanzleien Pro-bono-Mandate auf Druck der Regierung beenden oder Associates zu Arbeit zwingen, die ihren Überzeugungen widerspricht. Dafür entwickeln wir eine Art „Bill of Rights“ für Associates, damit sie ihre Rechte kennen und sich wehren können.

Kurze Antwort. Leben Sie noch in einer funktionierenden, rechtsstaatlichen Demokratie?
Nein.

Was ist Ihre größte Sorge für die Zukunft der USA?
Dass Menschen nur dann handeln, wenn sie selbst betroffen sind. Es gab viele Momente, in denen man hätte aufstehen müssen – bei Abschiebungen, bei Ignoranz gegenüber Leid im Nahen Osten, bei der Aushöhlung von Rechten. Wenn wir es nicht schaffen, Menschlichkeit ins Zentrum zu stellen, verlieren wir. Wenn doch, können wir gewinnen.

Die US-Anwältin Rachel Cohen (31) studierte an der Ohio State University Politik und Kommunikation und danach Jura an der Harvard Law School. Im Herbst 2022 stieß sie zu Skadden Arps Slate Meagher & Flom in Chicago, wo sie sich mit Finance beschäftigte. Im März 2025 ­kündigte sie dort, kurz bevor Skadden einen Deal mit der Trump-Regierung einging. Sie war die erste Asso­cia­te, die ihre Kündigung öffentlich machte und mit der Haltung der Kanzleien zu den Attacken der ­US-Regierung begründete.

Seit Mai ist Cohen in Teilzeit Strategic & External ­Affairs Coordinator bei der neu gegründeten Kanzlei Lowell and Associates. Kanzleigründer Abbe Lowell war zuvor Partner bei Winston & Strawn und hat neben ­Cohen die ebenfalls unter Protest bei Skadden aus­geschiedene Brenda Frey als Associate eingestellt.

Cohen hat in den vergangenen Wochen zahllose Vor­träge gehalten, in einer Anhörung der Demokraten ihre Position vertreten und mehrere Initiativen gestartet. Nach Würdigungen in den USA erhielt sie Anfang Juni als erste Preisträgerin den Konrad-Redeker-Preis für Rechtsstaatlichkeit, Haltung und Resilienz der Kanzlei Redeker Sellner Dahs.

Das Interview stammt aus dem aktuellen Rechtsmarkt 7/2025.

Fotos: Uwe Toelle

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