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Soziologie-Forscher: „Das Image von Großkanzleien schreckt viele ab“

Warum die Top-Anwaltschaft in Deutschland eine besonders geschlossene Gesellschaft ist, wie soziale Herkunft Karrieren beeinflusst und was Kanzleien tun können, um diverser zu werden, erläutert Dr. Asif Butt im Gespräch mit JUVE. Der Soziologe hat an der London School of Economics and Political Science die bislang größte wissenschaftliche Studie zur sozialen Herkunft von Top-Juristinnen und -Juristen in deutschen Großkanzleien geleitet.

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JUVE: Sie haben die bislang größte wissenschaftliche Studie über Top-Anwältinnen und -Anwälte in deutschen Großkanzleien geleitet. Was sind die zentralen Erkenntnisse?
Dr. Asif Butt: Die soziale Zusammensetzung der Top-Anwaltschaft ­­­unterscheidet sich stark von der Gesamtbevölkerung und auch von anderen Eliteberufen in Deutschland. Rund 85 Prozent der Anwältinnen und Anwälte in Top-Kanzleien stammen aus Elternhäusern der Oberschicht. In anderen Eliteberufen sind es nur 49 Prozent und in der gesamten deutschen Erwerbsbevölkerung nur 24 Prozent. Das haben wir durch einen detaillierte Berufskodierung und Kategorisierung nach sozialer Klasse herausgefunden.

Strukturelle Schranken: Der Zugang zur juristischen Spitze bleibt exklusiv.


Wie definieren Sie in Ihrer Studie die verschiedenen sozialen Schichten?
Wir nutzen das sogenannte EGP-Schema. Zur Oberschicht zählt dabei die obere und untere Dienstklasse. In der oberen Dienstklasse finden sich beispielsweise Ärzte und Anwälte, in der unteren etwa Lehrer oder Journalisten. Die Mittelschicht umfasst Personen mit Routinetätigkeiten in Büro, Verwaltung oder Dienstleistungen. Zur Arbeiterklasse zählen Facharbeiter, angelernte und ungelernte Arbeiter. Der Beruf ist die beste Variable, um auf Einkommen, soziales Prestige und Bildungshintergrund zu schließen.


Nur 7 Prozent der Anwälte in deutschen Großkanzleien stammen aus Arbeiterfamilien und nur 8 Prozent haben einen Mittelschichthintergrund. Ist die Anwaltschaft eine geschlossene Gesellschaft?
Ja, bei Großkanzleien kann man das schon so sagen. Wobei die Gründe auch tiefer liegen im Bildungssystem: Wer geht wo auf welche Grundschule? Wer macht Abitur? Wer studiert Jura? Für die wenigen aus Arbeiterfamilien, die es bis zum Jurastudium schaffen, sind Großkanzleien oft nicht attraktiv. Das Image schreckt viele ab. Es ist also ein zweiseitiges Problem: Kanzleien tragen ein bestimmtes Image in die Welt, das für Menschen aus Arbeiterfamilien unattraktiv wirkt, und diese Menschen trauen sich oft nicht zu, dort zu arbeiten.


Im Vergleich zu anderen Eliteberufen wie Ärzten oder höheren Beamten sind Anwaltskanzleien noch exklusiver. Warum ist das so?
Wichtig ist zu betonen, dass wir die 100 umsatzstärksten Kanzleien untersucht haben, nicht die gesamte Anwaltschaft. Wenn man die Top-Kanzleien im Vergleich betrachtet, sieht man die Unterschiede schon sehr deutlich. In anderen Berufsfeldern sehen wir deutlich mehr soziale Mobilität, besonders aus der Mittelschicht. Die extreme Exklusivität der Großkanzleien als Arbeitsort ist auch in anderen Ländern, zum Beispiel dem Vereinigten Königreich zu beobachten. In Deutschland trägt auch das sehr enge juristische Ausbildungssystem mit Jura-Studium, zwei Staatsexamina und Referendariat zur Elitebildung in den Kanzleien bei. Da ist der Zugang in anderen Eliteberufen und auch in anderen Ländern mitunter einfacher.

Wer als ‚Partner-Material‘ gilt, hängt vom sozialen Kapital ab


Sie haben festgestellt, dass 20 Prozent der Anwälte aus Juristenfamilien stammen. Bei Partnern ist dieser Anteil sogar noch höher. Warum gelingt dieser Gruppe der Aufstieg häufiger?
Kinder aus Juristenfamilien werden direkt und indirekt beeinflusst. Direkt durch Praktikumsplätze oder Netzwerke, indirekt durch eine frühe Sozialisation in juristisches Denken. Beim Abendessen bekommen sie juristische Fachbegriffe mit, zu Hause liegen Fachmagazine und Gesetzbücher. Interessanterweise versuchen viele, die Karrieren ihrer Eltern zu übertreffen – vom „Feld, Wald und Wiese“-Anwalt zum Wirtschaftsanwalt in einer internationalen Großkanzlei. Viele meiner Interviewpartner erzeugen auch eine Distanz von ihrem Privileg und betonen, dass ihre Eltern ihnen nie geholfen hätten. Da fehlt häufig das Bewusstsein oder Blick von außen, weil die Vertrautheit mit dem juristischen Feld für sie Normalität ist. Für den Aufstieg zum Partner spielen Habitus, Selbstbewusstsein und kulturelles Kapital eine große Rolle. Wer wird als „Partner-Material“ gesehen? Oft entscheiden ähnliche Interessen, gemeinsame Gesprächsthemen und soziales Kapital. Soziale Aufsteiger fühlen sich auf dem sehr elitären gesellschaftlichen Parkett häufig nicht so wohl. Sie bemerken zwischen ihrer eigenen Herkunft bis hin zur sozialen Destination Großkanzlei einen riesigen Kontrast. Einige von ihnen entfremden sich im Laufe ihres Aufstiegs sogar von ihrer Familie.


Neben der sozialen Herkunft beschäftigen Sie sich auch mit Generationenkonflikten in Kanzleien. Was haben Sie da beobachtet?
Auch generationelle Unterschiede prägen die Strukturen der Großkanzleien. Partner beklagen, dass junge Anwälte nicht mehr so leistungsbereit seien, während die jüngere Generation andere Erwartungen an den Beruf hat. Viele Associates sehen die Großkanzlei nur als Zwischenstation und nicht mehr als langfristige Karriereperspektive. Kanzleimanager müssen schauen, wer überhaupt noch die Bereitschaft mitbringt, Partner zu werden. Erfolgreich werden jene Kanzleien sein, die einerseits sozial breiter rekrutieren und so ihren Talentpool erweitern, und andererseits die veränderten Erwartungen der jungen Juristinnen und Juristen ernst nehmen – insbesondere das Bedürfnis nach Sinn, Entwicklungsperspektiven und verlässlicher Unterstützung.


Was können Großkanzleien tun, um sozial diverser zu werden?
Erstens muss Bewusstsein für das Problem geschaffen werden. Das tun wir auch durch die Studie. Dann sollte das Recruiting diversifiziert werden: An welchen Universitäten wirbt man? Man könnte Scorecards nutzen, die nicht nur Examensnoten bewerten, sondern auch Nebenjobs oder Engagement, um auch die Umstände zu beachten, unter denen Leistung erbracht wurde. Wichtig wäre auch, Partner als Führungskräfte auszubilden und systematischere Personalentwicklung zu betreiben. Von Dritten durchgeführte Exit-Interviews könnten helfen zu verstehen, warum der Anteil von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Karriereweg sinkt.


Welche Vorteile hätten Kanzleien von mehr sozialer Diversität?
Soziale Aufsteiger bringen wertvolle Qualitäten mit, etwa Durchsetzungsvermögen. Der Anwaltsberuf erfordert viel Menschenkenntnis, und nicht alle Mandanten kommen aus der Oberschicht. Menschen mit vielfältigem Hintergrund können oft besser mit unterschiedlichen Mandanten kommunizieren, sind nahbar – ein enormer Vorteil für Kanzleien.


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