Das Justizministerium in Wien sprach im Herbst 2022 von einem klaren Bild: Bei nur 0,4 Prozent der Ermittlungsverfahren war von Jänner bis September 2021 eine Verlängerung nötig – immerhin 180 Fälle. Auch im europäischen Vergleich belege Österreich einen Spitzenplatz. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Republik 2020 und 2021 nicht „wegen überlanger Verfahrensdauer“.
Großverfahren ausgeklammert
Bei genauer Betrachtung erweist sich die Bilanz des Ministeriums als unvollständig. Sie bezieht sich auf den Sicherheitsbericht 2021, der komplexe und langwierige Ermittlungsverfahren schlicht ausklammert: „Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ist in der Statistik nicht enthalten, weil deren Verfahren auf Grund ihrer besonderen Struktur nicht in Relation zu den Verfahren anderer Staatsanwaltschaften gebracht werden können.“
Bei Spezialisten für Wirtschaftsstrafrecht stieß das sauer auf. Schließlich ist bekannt, wie lange sich Ermittlungs- und Strafverfahren in diesem Bereich oft hinziehen. Die Vorgänge belasten die Betroffenen dann über Jahre. Im Buwog-Verfahren verstarb ein Beschuldigter, bevor Ende 2020 nach elf Jahren das erstinstanzliche Urteil fiel.
Der Wirtschaftskriminalitätsreport 2023 der Kanzlei Petsche-Demmel Pollak zeigt: Die Dauer von Ermittlungsverfahren sehen auch Unternehmenschefinnen und -chefs kritisch. 76 Prozent von ihnen stufen sie als „eher zu langsam“ ein. An der Studie beteiligten sich 167 Entscheidungsträger. Einer von ihnen monierte: Die Ermittlungsverfahren „hemmen das unternehmerische Handeln zum Teil in extremem Maße“. Denn die Teilnahme an Ausschreibungen sei verwehrt, die Kosten für die Verteidigung sehr hoch.
Über drei Viertel der Entscheiderinnen und Entscheider in Unternehmen halten staatsanwaltschaftliche Ermittlungen für zu langwierig | |
Die Dauer der Ermittlungen ist … | |
– alles in allem angemessen | 13% |
– eher zu langsam | 76% |
– eher zu schnell | 1% |
– weiß nicht/keine Angaben | 10% |
Ein wichtiger Grund für die langen Verfahren ist aus der Sicht von Dr. Andreas Pollak, Wirtschaftsstrafrechtler und Partner bei Petsche Pollak, das enorme Ausmaß an elektronischen Daten, die Ermittler bei ihren Untersuchungen sicherstellen. Diese werten sie dann akribisch aus und gelangen so zu immer neuen Causen.
Pollak erkennt darin jedoch mehr als eine neue, viel breitere Datenbasis: „Das Problem ist, dass das System falsch aufgesetzt ist“, sagt der Anwalt, der selbst eineinhalb Jahre bei der WKStA arbeitete. Auch seine Kanzleipartnerin Simone Petsche-Demmel ist überzeugt, dass der Gesetzgeber das Sicherstellen und Auswerten elektronischer Daten einschränken sollte – etwa auf schwere Straftaten. Oder die Daten, die auf dem Gerät gespeichert sind. Von den Staatsanwaltschaften selbst sei nicht zu erwarten, dass sie zurückhaltend vorgingen, und in der Rechtsprechung zeichne es sich ebenso wenig ab.
Zugriff beschränken
Bereits im November 2022 hatte der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) Reformen im Umgang der Ermittlungsbehörden mit Datenträgern und Daten angemahnt. Unter anderem schlug die Standesvertretung vor, die Schwelle zur Sicherstellung von Geräten wie Mobiltelefonen parallel zur Kommunikationsüberwachung zu gestalten. Also auf den dringenden Verdacht einer Straftat, für die mehr als ein Jahr Freiheitsstrafe droht. Auch der Zugriff auf externe Speicherplätze wie Clouds sollte beschränkt sein. Basis der Forderungen ist ein Gutachten von Prof. Dr. Ingeborg Zerbes und Shirin Ghazanfari vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien.
Als zweites, systembedingtes Problem macht Andreas Pollak die Kontrolle im Ermittlungsverfahren aus. „Auch bei Großverfahren sind dafür Haft- und Rechtsschutzrichter zuständig“, sagt der Strafrechtler: „Diese Kontrolle ist zahnlos.“ Denn die Richterinnen und Richter hätten eine Vielzahl und Vielfalt an Verfahren auf dem Tisch, zu denen auch zeitkritische Haftsachen und kleinere Prozesse gehören. Die umfangreichen, sperrigen Wirtschaftssachen fänden deshalb nicht ausreichend Aufmerksamkeit.
Harte Fristen nicht sinnvoll
Dr. Stefan Huber, Wirtschaftsstrafrechtler bei Cerha Hempel in Wien, hält auch die bestehenden Fristen im Ermittlungsverfahren für einen Papiertiger: „In großen Verfahren findet sich immer ein Grund für eine Verlängerung“, sagt Huber: „Ich hatte bislang nur Fälle, in denen das Gericht weitere Ermittlungen zuließ.“ Huber räumt auch ein, dass manche Causen wirklich Zeit brauchen – auch aus Sicht von Beschuldigten. „Harte zeitliche Grenzen sind also nicht unbedingt im Sinne des Rechtsstaats“, sagt der Cerha-Partner.
Dagegen treten andere Aspekte in den Hintergrund. Ein Bezug ins Ausland oder dolmetscherische Erfordernisse können zwar Verfahren deutlich verlängern. Das zeigt ein Blick in die Übersicht ‚Verfahrensdauer Straf 2021‘, die auf der Webseite der Rechtsanwaltskammer Wien abrufbar ist.
Das gilt auch für Verfahren, in denen Sachverständige nötig sind. Aus Sicht von Simone Petsche-Demmel stellt sich dabei vor allem die Frage, wann es nötig sei, einen externen Wirtschaftsexperten hinzuzuziehen. Schließlich sollte die WKStA hier eigenes Know-how einbringen können. Grundsätzlich funktioniere diese Arbeitsteilung zwischen den Staatsanwälten und den Sachverständigen jedoch.
Die Dauer von Verfahren rügen auch österreichische Gerichte immer wieder. Selbst bei einfachen Sachverhalten mit geständigen Tätern maß der OGH schon verringerte Strafen zu, weil er es für unverhältnismäßig hielt, wie lange sich das Verfahren hinzog (Gz. 14 Os 123/08g). Dass der EGMR Österreich zwei Jahre lang nicht wegen überlanger Verfahrensdauer verurteilte, ist jedenfalls kein Grund für Jubel. Es sollte der Normalzustand sein.