Minister Habeck wünschte sich damals ein „Kartellrecht mit Klauen und Zähnen“ und auch Justizminister Buschmann blieb bei der gemeinsamen Vorstellung des jetzigen Entwurfs der dentalen Metaphorik treu: Die Novelle drücke das Streben nach einer „Wettbewerbsbehörde mit Biss“ aus. Grund hierfür ist neben einer Verschärfung der sogenannten Vorteilsabschöpfung vor allem die Einführung eines völlig neuen Eingriffsinstrumentariums für das Bundeskartellamt (BKartA). Diese Änderung ist spektakulär, da sie der Behörde unter bestimmten Voraussetzungen Eingriffe in das Geschäft von Unternehmen ermöglicht, ohne dass diese gegen Kartellrecht verstoßen haben. Sie soll daher hier im Vordergrund stehen.
AUF DEM WEG ZUR MIR – NEUE EINGRIFFSBEFUGNISSE NACH SEKTORUNTERSUCHUNGEN
Während das BKartA im Zusammenhang mit Fusionskontrollverfahren und (insbesondere) Bußgeldern gut bekannt und sichtbar ist, dürften die von der Behörde durchgeführten Sektoruntersuchungen in der öffentlichen Wahrnehmung eher ein Schattendasein fristen. Mit diesem Instrument kann das Amt schon seit vielen Jahren die Marktverhältnisse in einem bestimmten Sektor aufarbeiten – eine mühevolle und langwierige Arbeit, deren Erkenntnisse bislang allein dazu genutzt werden konnten, im Anschluss einzelne Verfahren gegen konkrete Unternehmen zu führen, um diesen dann, wenn ihnen ein Kartellrechtsverstoß nachgewiesen werden kann, z. B. mit Abstellungsverfügungen oder Bußgeldern zu Leibe zu rücken.
Dass sich dies nun ändern soll, ist Kern der Reform und war zugleich – auch innerhalb der Regierungskoalition – ihr größter Konfliktpunkt. Der Entwurf sieht vor, das Amt im Nachgang zu Sektoruntersuchungen erstmals mit eigenständigen Eingriffsbefugnissen auszustatten. § 32f GWB-E soll es dem BKartA ermöglichen, binnen 18 Monaten nach dem Abschluss einer Sektoruntersuchung sogenannte Abhilfemaßnahmen anzuordnen, wenn im Rahmen der Untersuchung eine „erhebliche und fortwährende Störung des Wettbewerbs“ festgestellt wird. Der Entwurf folgt damit vor allem dem britischen Vorbild der Market Investigation References (MIR). Diese erlauben es der dortigen Kartellbehörde bereits seit vielen Jahren, nicht nur Marktverhältnisse zu analysieren, sondern auch direkt daraus abgeleitet Abhilfemaßnahmen (remedies) für bestimmte Wettbewerbsprobleme zu verhängen.
Für in Deutschland tätige Unternehmen hätte die Übertragung der „britischen Verhältnisse“ die ganz konkrete Konsequenz, dass sie erstmals in der Geschichte des deutschen Kartellrechts auch dann mit belastenden Behördenmaßnahmen rechnen müssten, wenn sie sich individuell betrachtet völlig rechtstreu verhalten.
Denn die „Wettbewerbsstörung“, ein bisher unbekannter Rechtsbegriff, ist nicht mit Kartellrechtsverstößen zu verwechseln. Vielmehr geht es hier um Situationen, in denen der Wettbewerb aus anderen Gründen erlahmt ist, beispielsweise aufgrund hoher Marktzutrittsschranken, durch bestimmte Vertragspraktiken oder regulatorische Erfordernisse oder durch die Präsenz von Oligopolen, Monopolen oder anderweitig besonders marktmächtigen Unternehmen. Der Regierungsentwurf illustriert den Begriff insoweit mit Regelbeispielen und nennt auch einige Kriterien, die das BKartA bei seiner Prüfung zu beachten hat. Dazu zählen beispielsweise die Anzahl, Größe, Finanzkraft und Umsätze der auf den betroffenen Märkten tätigen Unternehmen oder ihre Verflechtungen untereinander (§ 32f Abs. 5 Sätze 1 und 2 GWB-E). Damit greift die Bundesregierung – wenn auch ohne Anspruch auf eine abschließende Regelung des Tatbestandsmerkmals – die teils sehr massive Kritik auf, die dem Begriff der Wettbewerbsstörung im Vorfeld entgegengeschlagen war.
Mit der gleichen Zielrichtung legt der Entwurf zudem fest, wann eine Wettbewerbsstörung „fortwährend“ ist. Dabei werden ein prognostisches Element und eine Vergangenheitsbetrachtung kombiniert. Zum einen muss die vom Amt festgestellte „Störung“ über einen Zeitraum von drei Jahren dauerhaft vorgelegen haben oder wiederholt aufgetreten sein. Und zum anderen dürfen zum Zeitpunkt der Verfügung keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Störung innerhalb von zwei Jahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wieder entfallen wird (§ 32f Abs. 5 Satz 3 GWB-E). Zudem bedarf es einer gewissen räumlichen Erheblichkeit. Probleme in einer einzelnen Stadt oder Region reichen nicht aus. Vielmehr muss die Wettbewerbsstörung auf mindestens (1) einem zumindest bundesweit abzugrenzenden Markt, (2) mehreren einzelnen Märkten oder (3) marktübergreifend identifiziert werden (§ 32f Abs. 3 Satz 1 GWB-E). Auch diese Tatbestandsrestriktion war im Referentenentwurf noch nicht enthalten.
Grund für diese Eingrenzung ist, dass die Feststellung einer derartigen Wettbewerbsstörung dem Amt eine große Machtfülle verleiht. Der Entwurf befähigt die Bonner Behörde, vereinfach gesagt, dazu, alle Maßnahmen zu ergreifen, die die Wettbewerbsstörung zumindest verringern; einzige Grenze ist letztlich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 32f Abs. 3 Satz 6 GWB-E). Das ist – jedenfalls im Ansatz – sehr weitreichend, weshalb der Regierungsentwurf dem BKartA nun den zusätzlichen Nachweis abverlangt, dass alle sonstigen im GWB geregelten Eingriffsbefugnisse nicht ausreichen, um der Wettbewerbsstörung angemessen entgegenzuwirken (§ 32f Abs. 3 Satz 1 GWB-E). Außerdem sollen nur solche Unternehmen adressiert werden können, „die durch ihr Verhalten zur Störung des Wettbewerbs wesentlich beitragen“ (§ 32f Abs. 3 Satz 3 GWB-E); es wird also eine gewisse „Mindestverantwortlichkeit“ der Verfügungsadressaten für die Wettbewerbsstörung vorausgesetzt.
Es handelt sich hierbei jeweils um Tatbestandseingrenzungen, mit denen die Bundesregierung den zahlreichen Kritikern des Referentenentwurfs entgegenzukommen versucht. Deren Bedenken konzentrierten sich vor allem auf den Umstand, dass als schärfste Eingriffsmaßnahme sogar die „Zerschlagung“ droht, also die zumindest teilweise eigentumsrechtliche Entflechtung von Unternehmen. Sie durfte allerdings schon nach den früheren Überlegungen nur angeordnet werden, wenn sie die festgestellte Wettbewerbsstörung mindestens erheblich verringert und andere Abhilfemaßnahmen nicht möglich, nicht von gleicher Wirksamkeit oder (ausnahmsweise) im Vergleich zur Entflechtung mit einer größeren Belastung für das Unternehmen verbunden sind. Zusätzlich ist nun vorgesehen, dass sie nur für solchen Unternehmen zum Tragen kommt, die entweder marktbeherrschend sind oder für die bereits (durch gesonderte Verfügung) eine überragende marktübergreifende Bedeutung nach § 19a GWB – der besonderen Missbrauchskontrolle für die Digitalwirtschaft – festgestellt worden ist.
Eine weitere Eingrenzung ergibt sich nun daraus, dass die Entflechtung von einer vorherigen Wertanalyse abhängig gemacht wird: Ein Unternehmen soll nur dann Vermögensteile veräußern müssen, wenn der hierbei zu erzielende Erlös mindestens 50 % des Wertes beträgt, den ein vom BKartA zu beauftragender Wirtschaftsprüfer zuvor festgestellt hat. Überschreitet der tatsächliche Verkaufserlös zwar diese Schwelle, liegt er aber unterhalb des vom Wirtschaftsprüfer festgestellten Werts, erhält das Unternehmen eine zusätzliche Zahlung vom Staat. Diese soll bei der Hälfte des Differenzbetrags zwischen festgestelltem Wert und tatsächlichem Verkaufserlös liegen. Auch die Kosten für das zugrundeliegende Wertgutachten soll der Bund tragen (§ 32f Abs. 4 Sätze 7 und 8 GWB-E).
Dies wird sich anreizmindernd auf die Anordnung von Veräußerungspflichten auswirken und rundet die insgesamt deutlich restriktiver gefasste neue Version des § 32f GWB-E ab. Da zudem eine Beschwerde gegen Entflechtungsanordnungen aufschiebende Wirkung hat (§ 66 Abs. 1 GWB-E), darf man konstatieren: In der jetzigen Entwurfsfassung erhält das Amt zwar einen großen Machtzugewinn, dieser wird jedoch zugleich an strenge Voraussetzungen geknüpft. Im Fall der Entflechtung sind diese so streng, dass schon jetzt fraglich erscheint, ob sie in der Praxis jemals (erfolgreich) angeordnet werden wird.
DAS WUNDER DER (AB-)SCHÖPFUNG – REFORM DES § 34 GWB
Eine im Entwurfsprozess ebenfalls in die Kritik geratene Neuerung findet sich in § 34 GWB-E. Damit wird eine bereits existierende, praktisch aber nie eingesetzte, Norm zur Abschöpfung wirtschaftlicher Vorteile neu gefasst. Das BKartA soll Unternehmen dadurch unter erleichterten Bedingungen die Vorteile entziehen können, die sie durch kartellrechtswidriges Verhalten erlangt haben. Anders als noch im Referentenentwurf vorgesehen, soll dabei – wie schon heute – erforderlich sein, dass der Kartellrechtsverstoß vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde. Im Gegensatz zu den Plänen des Referentenentwurfs werden auch die dabei geltenden zeitlichen Grenzen nicht ausgeweitet. Jede Abschöpfung soll also weiterhin nur innerhalb einer Frist von bis zu sieben Jahren seit Beendigung des Kartellrechtsverstoßes und längstens für einen Zeitraum von fünf Jahren angeordnet werden.
Das Herzstück der „Abschöpfungsreform“ aber bleibt unverändert: Es soll eine doppelte Vermutung eingeführt werden, nämlich sowohl für die Existenz eines verstoßbedingten wirtschaftlichen Vorteils als auch für dessen Höhe. Die gesetzlich vermutete Mindesthöhe beträgt dabei 1 % der Umsätze, die im Inland mit den Produkten oder Dienstleistungen erzielt wurden, die mit dem Kartellrechtsverstoß in Zusammenhang stehen (§ 34 Abs. 4 Sätze 1 und 4 GWB-E). In der Theorie ist diese Vermutung zwar widerleglich, in der Praxis wird sie es dagegen kaum je sein. Das betroffene Unternehmen müsste hierfür nämlich nachweisen, dass es im relevanten Zeitraum insgesamt keinen Gewinn in entsprechender Höhe erzielt hat (§ 34 Abs. 4 Satz 7 GWB-E). Da hierbei aber auf die weltweiten Gewinne der gesamten Unternehmensgruppe abgestellt wird, dürfte gerade diversifizierten oder international aufgestellten Unternehmen die Vermutungswiderlegung praktisch immer versperrt ist: Ihre weltweiten Konzerngewinne werden regelmäßig bei mindestens 1 % (nur) der deutschen Umsätze mit (nur) den kartellierten Produkten liegen.
Eine Verteidigung gegen die Vermutungswirkung dürfte daher allenfalls in den Fällen aussichtsreich sein, in denen die Erlangung eines Vorteils „aufgrund der besonderen Natur des Verstoßes ausgeschlossen ist“ (§ 34 Abs. 4 Satz 9 GWB-E). Dieser neu eingefügte Passus bezieht sich indes auf sehr seltene Ausnahmesituationen wie z. B. Kartelle im Rahmen öffentlicher Vergaben, bei denen der betroffene Kartellant absprachegemäß ein unattraktives Angebot abgegeben und deshalb gerade keinen Zuschlag für den Auftrag erhalten hat. In der Gesamtschau wird die Handhabung der Vorteilsabschöpfung für das BKartA daher – wie regierungsseitig gewünscht – deutlich einfacher werden. Das dürfte sich vor allem in Verfahren wegen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung auswirken, wo das BKartA bisher auf unmittelbare finanzielle Belastungen der adressierten Unternehmen verzichtet hat.
FAZIT
Nach jetziger Planung wird der Gesetzesentwurf nun zügig seinen weiteren Weg gehen. Die erste Lesung im Bundestag ist für den 25. Mai 2023 vorgesehen, die zweite und dritte Lesung könnten im Juni 2023 stattfinden.
Neben den hier besprochenen Änderungen enthält der Entwurf auch einige interessante Neuregelungen zur Umsetzung des seit Anfang Mai anwendbaren Digital Markets Act der Europäischen Union (DMA). Hier ist aber wohl mit keinen weiteren Überraschungen mehr zu rechnen. Anders möglicherweise bei den neuen „Abhilfemaßnahmen“: Bei vielen deutschen Kartellrechtlern, Unternehmen und Wettbewerbspolitikern verbleibt hier ein Störgefühl. Was die Entwurfsbefürworter als Schließung einer Regelungslücke sehen, ist den Kritikern ein „Paradigmenwechsel“ hin zu behördlichem Marktdesign, das zudem von persönlich vorwerfbaren Rechtsverstößen unabhängig ist. Der Entwurf wird daher zumindest in diesem Punkt auch auf der Zielgeraden weiterhin unter genauer Beobachtung stehen und es nicht auszuschließen, dass dies zu weiteren Änderungen führt. Nach jetziger Lage der Dinge aber dürften diese eher den Feinschliff einzelner Normdetails betreffen. Denn das grundlegende Regelungskonzept hat nicht nur bereits einer massiven Welle an Kritik standgehalten, sondern genießt nun auch den Rückhalt des gesamten Bundeskabinetts.
Für Unternehmen heißt das: Es wird ein „new normal“ geben. Nicht nur wird die Vorteilsabschöpfung bei Kartellrechtsverstößen erstmals zu einer greifbaren finanziellen Bedrohung. Daneben erhalten Sektoruntersuchungen, bislang von vielen Marktteilnehmern mit eher halbherzigem Engagement bedacht, ganz unabhängig von Rechtsverstößen einen völlig neuen Stellenwert von marktweiter Bedeutung – mit erheblichem Belastungs- und Konfliktpotential.
Das Resümee darf daher jetzt schon lauten: Auch im Kartellrecht ist Zeitenwende.