Schon im Vorjahr deutete sich an, was nun nicht mehr zu übersehen ist. „Wir haben ein Jahrzehnt wie die Maden im Speck gelebt, das ist vorbei“, beschreibt ein angesehener Verteidiger die Rückkehr zur Normalität. Die Dieselverfahren sind weitgehend abgearbeitet, bei Cum-Ex tut sich wenig – sieht man von dem Bonner Verfahren mit dem öffentlich ausgetragenen Konflikt zwischen dem inzwischen verurteilten Dr. Kai-Uwe Steck und seinem Ex-Verteidiger Prof. Dr. Alfred Dierlamm einmal ab. Nur Cum-Cum nimmt deutlich Fahrt auf. Doch fehlt es derzeit an Verfahren, die mehr Mandate generieren, als es Wirtschafts- und Steuerstrafverteidiger gibt und damit die etablierten Verteilernetzwerke fordern. Größere Komplexe, wie die Luxusschleusungen und Sanktionsverstöße, kompensieren dies ebensowenig wie das zunehmende Engagement vom Zoll und der Europäischen Staatsanwaltschaft. Verschärft wird die Situation dadurch, dass in den vergangenen Jahren etliche neue Kanzleien gegründet wurden, und auch Großkanzleien heute strafrechtlich stärker sind als früher. Sie sorgten auch für die spektakulärste Personalie des Jahres: Im Sommer wurde bekannt, dass Dr. Simone Kämpfer, die prominenteste Partnerin von Freshfields, zur Deutschen Bank wechselt.
Unabhängig davon dürften die Großkanzleien aber auch zu spüren bekommen, dass Compliance-Untersuchungen heute meist deutlich kleiner gehalten werden und dank KI-Einsatz immer weniger Personal erfordern. Das wiederum begünstigt Strafrechtsboutiquen wie Park, Feigen Graf, Rosinus Partner oder FS-PP Berlin, die mit vergleichsweise kleinen, inhaltlich fokussierten Teams agieren. Das dürfte auch Knauer so sehen, der eine Investigation-Gesellschaft gegründet hat.
Kreativität und Strategie sind gefragt
Um sich in diesem Markt zu behaupten, sind Ideen gefragt. Eine davon: breit aufgestellt sein. Das heißt, neben der Verteidigung auch auf präventive Compliance-Beratung und Investigations zu setzen. Eine andere: Nischen besetzen. Diesen Weg gehen etwa Wessing & Partner und Lilie Ihwas mit dem IT-Strafrecht und Datenschutz oder Rettenmaier, Dierlamm und Verte im Sportsektor. Eine dritte Idee: neue Räume erschließen. So eröffnete nach Park auch Feigen Graf in Hamburg. Für Letztere ist es das vierte Büro. Dierlamm entschied sich für Köln, Knauer in diesem Jahr für Stuttgart.
Die meisten Boutiquen jedoch verfolgen keine dezidierte Strategie, wohl auch, weil dies bisher nicht nötig war. Doch am Beispiel von Köln und Düsseldorf wird deutlich, dass das Folgen hat. Lange war im Rheinland klar Düsseldorf mit tdwe Thomas Deckers Wehnert Elsner, VBB Rechtsanwälte und Wessing & Partner die erste Adresse für die Verteidigung. Doch in den vergangenen Jahren sind Kölner Kanzleien wie Gercke Wollschläger, Verte und Gazeas Nepomuck den einstigen Platzhirschen gewaltig auf die Pelle gerückt. Und sie haben einen Vorteil: Bei ihnen steht kein Generationswechsel an, während sich bei den etablierten Düsseldorfer Einheiten die einstigen Lichtgestalten bereits verabschiedet haben oder in absehbarer Zeit verabschieden werden. Die Marktmacht verschiebt sich und der neu eingerichtete LLM für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht an der Uni Köln wird dazu noch beitragen. Und auch im eng besetzten Frankfurter Markt treten viele, lange führende Anwälte altersbedingt kürzer. Ihre potenziellen Nachfolger mögen sich behaupten können, werden sich aber in Anbetracht der heute viel größeren Konkurrenz ohne einen Plan schwerer tun als ihre Vorgänger.
Die Bewertungen behandeln Kanzleien, die im Wirtschafts- und/oder Steuerstrafrecht beraten. Die Mandatsbeschreibungen beziehen sich in aller Regel auf zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses nicht rechtskräftig festgestellte Vorwürfe. Die tabellarischen Übersichten unterscheiden zwischen Individualverteidigung u. der Vertretung von geschädigten oder betroffenen Unternehmen, insbes. gegenüber Behörden und Justiz in konkreten Verfahren (siehe auch Compliance-Untersuchungen, Konfliktlösung und ESG – Umwelt, Soziales, Unternehmensführung). Hinzu kommt eine Übersicht über ausgewiesene Steuerstrafrechtler.