Wehrhafter Rechtsstaat

„Es gibt erschreckend viele Schwachstellen“

Wie sicher ist der Rechtsstaat gegen Angriffe von rechts? Was ist bisher passiert, um die demokratischen Institutionen zu schützen, falls eine autokratische Partei an die Macht kommt? Redeker-Partner und DAV-Vizepräsident Dr. Ulrich Karpenstein sagt: „Nichts, was mich ruhig schlafen lässt.“

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In der vergangenen Woche demonstrierten Hunderttausende Menschen in ganz Deutschland gegen die AfD – wie hier in Halle.
Ulrich Karpenstein

Was haben Sie gedacht, als Sie über das Geheimtreffen von AfD-Politikern und Neonazis erfahren haben?
Dr. Ulrich Karpenstein: Obwohl wir rechtsextreme Parteien oft auf der Gegenseite haben, war es auch für mich ein Hallo-Wach-Effekt. Dass diese Leute solche Massendeportationen diskutieren, zeigt, wie tief rassistisches und neonazistisches Gedankengut sogar bei gewählten Abgeordneten angekommen ist. Der Rechtsstaat stirbt nicht von heute auf morgen. Für mich geht es um die Frage, auf welchem Boden wir in fünf oder zehn Jahren arbeiten werden.

Was ist zu tun?
Wir müssen die Widerstandsfähigkeit unseres Rechtsstaats steigern. Institutionell und personell.

Viele fordern auch ein AfD-Verbot.
Eine solche Forderung ist legitim, kommt aber meines Erachtens zu spät und geht letztlich am Problem vorbei. Mit Parteiverboten bekommt man einen gesellschaftlichen Rechtsruck kaum in den Griff. Die Wehrhaftigkeit des Rechtsstaats zeigt sich an anderer Stelle. Wir haben das in Europa zuletzt bei vielen Staaten sehr genau beobachten können: Autokraten und Populisten mit einer stabilen Mehrheit konnten binnen einer einzigen Legislatur ihre Macht ganz legal zementieren, indem sie zentrale Einrichtungen wie die Medien und Sicherheitsdienste auf Linie brachten. Das funktioniert, sobald die Justiz entmachtet oder ebenfalls auf Linie ist. Vor allem sie muss deshalb vor politisch motivierten Ein- und Übergriffen geschützt werden. Ich wage mir gar nicht auszumalen, wie Donald Trump im Falle einer Wiederwahl durchregieren würde, nachdem er den Supreme Court schon in seiner letzten Wahlperiode mit Gefolgsleuten besetzt hat.

Wie könnte eine solche Machtübernahme in Deutschland theoretisch vonstattengehen?
Eigentlich bin ich optimistisch, dass uns das nicht noch einmal blühen wird. Aber in Polen, Ungarn, der Türkei und sogar in Israel und den USA haben wir gesehen, dass es erschreckend viele Angriffsflächen und Schwachstellen gibt. Mit der formal demokratischen Machtergreifung beginnt der Umbau des Staates. Behörden werden mit eigenen Leuten besetzt oder entmachtet, der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird diskreditiert oder übernommen, es werden linientreue Richter ernannt und das Wahlrecht verändert. Für die deutschen Bundesländer untersucht das „Projekt Thüringen“ des Verfassungsblogs gerade, welch’ Einfallstore die Landesverfassungen bieten und wie in einem solchen Falle der Bund und die EU reagieren könnten. Da ist noch viel zu tun!  

Ist schon konkret etwas geändert worden, um den Rechtsstaat zu sichern?
Nichts, was mir ausreichen würde. Nichts, was mich ruhig schlafen ließe.

Was kann helfen, die Justiz widerstandsfähiger zu machen?
Für die obersten Gerichte von Bund und Ländern sollte erst einmal sichergestellt werden, dass radikale Sperrminoritäten die Besetzung der Richterstellen nicht langfristig blockieren können. Bekanntlich werden etwa die Mitglieder der Verfassungsgerichte mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt. Hier bedarf es kluger Lösungen, die die uneingeschränkte Funktionsfähigkeit der Gerichte auch in raueren Zeiten gewährleisten. Es wurden in der Vergangenheit auch Fehler gemacht. Die Besetzung von Richterposten ist zu häufig politisiert worden – auch von anderen Parteien.

Dass man sich über solche Themen mal ernsthaft Gedanken machen muss, erschien bis vor wenigen Jahren kaum vorstellbar. Wissen Sie noch, wann das angefangen hat?
Ja, sogar ziemlich genau: Das war lange vor den aktuellen Entwicklungen in Deutschland, nämlich am Morgen nach der Trump-Wahl am 9. November 2016. Wir saßen beklommen und benommen in der Kanzlei zusammen und dachten: Wäre Deutschland eigentlich auf ein solches Szenario vorbereitet? Müssen wir unsere Verfassungen nicht einmal auf Einfallstore durchscannen? Was würde etwa geschehen, wenn Kanzler oder Ministerpräsidenten ihre Abwahl nicht akzeptieren?  Zusammen mit vielen anderen Verfassungsrechtlern sitzen wir also schon einige Jahre – und durchaus zeitintensiv – an dem Thema dran.

Ist das Thema auch bei Ihren Kollegen etwa im DAV angekommen?
Ja, der DAV ist da alert. Auch aufgrund der zahlreichen Vernetzungen mit Anwaltschaften aus Ländern, die das schon getroffen hat. Ich kenne inzwischen niemanden mehr, auch nicht aus den Wirtschaftskanzleien, der sagt, wir seien vor solchen Entwicklungen gefeit. Auch der Neujahrsempfang des DAV letzte Woche sowie unsere Gespräche mit den zuständigen Ministerien stehen unter dem Titel „Resilienz des Rechtsstaates“.

Und was genau kann die Anwaltschaft tun?
Allerhand! Der Anwaltschaft kommt im Rechtsstaat die zentrale Wächterrolle zu, nicht nur in Deutschland. In Polen und in Israel haben sich unsere Kollegen mit großem Erfolg gegen die Gleichschaltung und Unterwerfung der Justiz gewehrt. Auch in der Türkei ist die Anwaltskammer in ihrer kemalistischen Tradition sehr stark und hat häufig das Schlimmste verhindert. Bleibt die Anwaltschaft hier einig und ist sie stark, kann sie sich als Bollwerk für Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung erweisen. Anwältinnen und Anwälte sehen in ihrem beruflichen Alltag zuallererst die Fehlentwicklungen – und es ist unsere Aufgabe, diese frühzeitig zu thematisieren.

Warum ist die Frage nach einem funktionierenden Rechtsstaat für Wirtschaftskanzleien wichtig?
Als Partner einer Wirtschaftskanzlei kann ich sagen: Ohne einen funktionierenden Rechtsstaat können wir und die von uns vertretenen Unternehmen einpacken! Nicht nur, weil unser Wirtschaftsstandort auf unabhängige Gerichte und unbestechliche Beamte angewiesen ist. Sondern weil es zu kurz greift, den Markt, den wir ‚Rechtsmarkt‘ nennen und in dem wir tätig sind, bloß kaufmännisch zu betrachten. In ‚Rechtsmärkten‘ wie Kasachstan, Russland oder der Türkei kann es einem blühen, dass der eigene Richter im Präsidentenbüro oder der höheren Instanz anruft und anfragt, wie der Fall zu entscheiden ist. Wer will in so einem Umfeld gerne Wirtschaftsanwalt sein?

Wenn die Bezahlung stimmt?
Das ist der Punkt! Es kann doch angesichts der internationalen Entwicklungen nicht mehr allein darum gehen, Geld von der einen in die andere Tasche zu transferieren. Die Anwaltschaft hat ein gemeinsames Interesse am Erhalt unserer Gesellschaft, der Gewaltenteilung und am Zugang zum Recht. Den Wirtschaftskanzleien geht es hier nicht anders als Einzelanwälten oder sonstigen Kanzleien. Ich wüsste nicht, warum wegen guter Bezahlung weniger auf Missstände und Gefahren hingewiesen werden sollte. Das gesetzliche Leitbild der Anwaltschaft – und natürlich auch das meiner Kanzlei – ist ein anderes.

Gehört dazu auch, etwa die AfD zu beraten und zu vertreten?
Eine schwierige Frage. Ich bin da gespalten. Auf der einen Seite sollten wir die Vertretung von Wutbürgern und Verfassungsfeinden nicht denjenigen überlassen, die eine faktenbasierte Kommunikation verweigern. Schon heute werden ja die AfD und deren Leute durchaus auch mal von professionellen Kolleginnen und Kollegen vertreten. Ich halte es für schwierig, diese Kollegen allein deshalb öffentlich anzuprangern. Es sollte normalerweise schon getrennt werden zwischen Mandat und Mandant. Entscheidend ist: Wer vertritt selbst AfD-Thesen?

Würden Sie persönlich die AfD vertreten?
Das ist die andere Seite: Nein, ich könnte das weder mit meinem Gewissen noch mit dem Leitbild der Kanzlei vereinbaren, in der ich Partner bin. Und nach allem, was ich weiß, geht es meinen Kolleginnen und Kollegen ebenso. Ich bin Anwalt geworden, weil Konrad Redeker, der Namensgeber meiner Kanzlei, wie kaum ein anderer deutscher Jurist die personellen Kontinuitäten zur Nazizeit öffentlich angeprangert hat. Ich könnte da nicht über meinen Schatten springen – wohl wissend, dass dies in einem gewissen Widerspruch zu meiner Überzeugung steht, dass Anwälte nicht mit ihren Mandanten identifiziert werden dürfen. Denn eins ist klar: Es muss Kolleginnen und Kollegen geben, die die AfD vertreten. Auch ein Rechtsextremist muss etwa in einem Strafverfahren verteidigt werden, wie andere Kriminelle auch.

Sie könnten ja sagen, dass sie das Recht und nicht die Ideologie vertreten?
Das ist vermutlich ein Weg, die Annahme eines solchen Mandats vor sich selbst zu rechtfertigen. So etwas habe ich kürzlich erlebt: In einem Verfahren gegen die AfD vor einem Landesverfassungsgericht outete sich einer ihrer Anwälte öffentlich als Sozialdemokrat.

Merkwürdig. Was sagt so etwas über unser Land und unsere Zeit aus?
Das kann auch als Hilferuf verstanden werden, nicht vorschnell mit der Mandantin identifiziert zu werden. Und es ist natürlich eine Folge der Öffentlichkeit, der Anwälte heute durch die Medien ausgesetzt sind.

Wie rechts ist die Anwaltschaft?
Natürlich ist auch die Anwaltschaft ein Spiegel der Gesellschaft, wie andere Berufe auch. Wir sehen auch, dass Juristen in rechtsextremen Organisationen vertreten sind. Wichtig ist es daher, sich dieser Realität zu stellen. Der DAV als Berufsverband schafft durch seine Tätigkeit die Grundlage dafür, dass sich Rechtsextreme dort nicht wohlfühlen. Das geschieht durch unseren Einsatz für Bürger- und Freiheitsrechte, durch die Stiftung contra Rechtsextremismus oder etwa das DAV-Engagement für die Verfahrensgarantien im Migrationsrecht. Rechtsextremismus und Antisemitismus sind mit dem Anwaltsberuf jedenfalls ethisch unvereinbar.

Und bei Redeker? Ermöglicht Ihnen das Leitbild, Anwälte mit fragwürdiger Gesinnung loszuwerden?
Zum Glück gab es da noch nie ein Problem. Aber natürlich: Bei allem Sinn für Individualismus wäre da eine Grenze überschritten.

Müssen die Kammern nicht aktiv werden, um die braunen Schafe auszuschließen?
Das ist nicht leicht. Die Zulassung kann einem Anwalt oder einer Anwältin quasi nur entzogen werden, wenn die Person sich strafbar gemacht hat. Ansonsten ist das mit der Anwaltschaft anders als im Staatsdienst oder in der Justiz. Der Staat darf einen Anwalt wegen seiner politischen Auffassungen zum Glück nicht zur Raison bringen. Und zur Berufsausübung kann auch mal die Provokation gehören.

Was ließe sich dennoch tun?
Ich plädiere dafür, dass wir innerhalb der Anwaltschaft Strukturen schaffen, die es uns ermöglichen, gezielter zu reagieren. Etwa in Form eines Stufenmodells, das Toleranz mit Fristsetzung verbindet. Nach dem Motto: Wenn Du weitermachst, dann müssen wir mal ernst sprechen. Und wenn das nichts bringt, wirst Du freigestellt. Und ganz zum Schluss kann dann auch Deine Zulassung ausgesetzt werden.

Warum braucht es auch Wirtschaftsanwälte, um den Rechtsstaat zu schützen?
Auch in Wirtschaftskanzleien üben wir doch einen freien Beruf aus. Und dadurch können wir erheblich mehr tun als etwa Beamte, Richter und Politiker. Ein Beamter denkt im Vertikalverhältnis: Was will der Minister? Politiker denken horizontal: Was will mein Ressortkollege, was wollen die anderen Parteien? Wir Anwälte sind frei, wir verwalten uns selbst, unabhängig vom Staat. Wir sollten und müssen den Rechtsstaat schützen als freie Organe der Rechtspflege. Als Anwaltschaft, gleichviel ob in Wirtschafts- oder anderen Kanzleien, sind wir prädestiniert, Vorschläge zu machen, wie der Rechtsstaat funktionsfähiger und resilienter gemacht werden kann. Und meine Erfahrung ist: Wir finden damit Gehör. Wenn wir mit den richtigen Personen zusammenarbeiten, kann es sogar sein, dass alle demokratischen Parteien plötzlich einer Meinung sind. Das macht mich schon optimistisch.

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