Livestreams von Gerichtsprozessen

„Die ganze Welt könnte Kanzleien auf die Finger schauen“

Der Bundestag hat eine Neuerung beschlossen, die die Prozesswelt aufhorchen lässt: Gerichte sollen Verhandlungen live ins Internet übertragen dürfen. Martin Wohlrabe, Inhaber der auf Rechtskommunikation spezialisierten Agentur Consilium, ist überzeugt: eine Änderung mit weitreichenden Auswirkungen.

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JUVE: Der Bundestag hat beschlossen, dass künftig Gerichtsverhandlungen live im Internet übertragen werden dürfen. Wenn das wirklich so kommt: Wäre das gut oder schlecht für Prozessanwälte?
Martin Wohlrabe: Auf jeden Fall würde es der Prozesswelt neue Dynamik verleihen. Falls die Live-Übertragung tatsächlich kommen sollte, hätte sie meines Erachtens weitreichende Auswirkungen auf die Art, wie Prozesse geführt werden und wie öffentlich in Verhandlungen argumentiert wird. Interessant werden würde es wohl bei Prozessen, die auch jetzt schon die Öffentlichkeit ansprechen, wie der Dieselabgasskandal, Fälle in der Produkthaftung oder beim Datenschutz. Bei diesen und weiteren Themen würden auch Journalisten niedrigschwelliger Chancen erhalten, sich einen eigenen Eindruck vom Prozessgeschehen zu machen.

Warum würde in gestreamten Verhandlungen anders argumentiert? Inhaltlich ändert sich ja nichts am Prozessrecht.
Es geht damit los, dass noch mehr Fingerspitzengefühl gefragt wäre. Das gilt sowohl hinsichtlich der sprachlichen als auch der inhaltlichen Gestaltung eines Arguments. Die Sensibilität der Öffentlichkeit hat sich in vielen Themen nochmals erhöht – seien es Themen wie Gendern, Mansplaining …

… wenn also jemandem etwas auf eine als bevormundend empfundene Weise erklärt wird …
… oder auch wirtschaftliche und politische Bezüge. Diese Dinge rücken so stark in den Vordergrund, dass bei einem größeren, unbestimmten Netzpublikum Reputationsrisiken zunehmen würden. Nicht nur für Anwälte vor Gericht, sondern auch für deren Kanzleien. Man muss verstärkt auf die Wortwahl achten, weil sonst schnell Äußerungen von Prozessanwälten ungewollt als politische und gesellschaftliche Statements aufgefasst werden können. Am Ende gilt es: Jeder Satz muss eine gewisse Zitierfähigkeit innehaben.

Aber muss man nicht jetzt auch schon auf seine Wortwahl achten?
Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man in einer Saalöffentlichkeit spricht oder in der unüberschaubaren Öffentlichkeit des Internets. Wenn man schaut, wie sich Debatten in den sozialen Medien verselbstständigen, die Vehemenz und Direktheit, mit der dort gestritten wird – das ist etwas anderes als die klassische Gerichtsöffentlichkeit, und diese Sphäre würden Anwältinnen und Anwälte betreten, wenn Gerichte Zivilprozesse live streamen.

Was könnte konkret passieren?
Alles, was wir bisher aus öffentlichen Debatten auch schon kennen: Aus so einer Live-Übertragung können Snippets herausgezogen, Memes gebastelt und Anwälte oder auch die jeweils vertretene Mandantschaft verballhornt werden. Das mögen Oberflächlichkeiten sein, aber allgemein muss ich mir als Anwalt ein paar zusätzliche Gedanken machen, wie ich für meinen Mandanten argumentiere, wenn ich künftig live im Netz gestreamt werde. Was leiste ich mir als zugespitztes Argument aus dem eigenen Munde, und wo bleibe ich besser vage?

Wie könnte sich diese Entwicklung auf Kanzleien im Ganzen auswirken?
Die meisten Kanzleien stehen ohnehin schon unter Druck, zum Beispiel sich diverser darzustellen als sie es in Wirklichkeit sind. Die Öffentlichkeit bewertet Unternehmen, aber eben auch Kanzleien zunehmend unter ethischen Gesichtspunkten. Schon heute wird in Kanzleien mehr als früher überlegt, ob bestimmte Branchen und Mandanten sich mit dem eigenen Image vertragen. Wenn die ganze Welt zusehen kann, was da im Gerichtssaal vorgetragen wird, wird natürlich schneller deutlich, wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.

Es drohen also Schlammschlachten in den sozialen Medien, und Anwältinnen und Anwälte trauen sich vor Gericht nicht mehr offen zu reden – ist das dann nicht einfach eine Schnapsidee mit den Live-Übertragungen?
So weit würde ich nicht gehen. Es ist erst mal, auch rechtsstaatlich gedacht, nicht verkehrt, wenn ein höheres Maß an Transparenz in die Justiz einzieht. Und es ist ja auch nicht so, dass sprachgewandte Anwälte zu Opfern einer unberechenbaren Meute vor den Bildschirmen werden. Nicht zuletzt können Kanzleien die veränderten Gegebenheiten auch für sich und die Mandanten nutzen, die Live-Übertragung würde zum Element der Prozessstrategie. Und da wird es doch interessant: Je nachdem, wen man vertritt, lässt sich die eigene Community, lassen sich wesentliche Stakeholder viel enger einbinden. Gerade auch, wenn eine Partei in einer wirtschaftlich schwächeren Position ist, kann sie über den Hebel der Öffentlichkeit einen Druck auf Platzhirsche ausüben, wie es vorher nicht möglich gewesen wäre – ein David-gegen-Goliath-Effekt.

Für Litigation-PR-Profis mag das verlockend klingen. Aber wollen wir denn insgesamt eine Justiz, in der es wichtiger ist, die Öffentlichkeit emotional zu erreichen, als ein Gericht mit Fakten?
Bei verlockend kommt es darauf an, wen man vertritt. Industrienah gedacht, würde die mediale Situation nicht einfacher werden. Und, klar: Die Sorge vor einer Amerikanisierung der Justiz müssen wir ernst nehmen. Aber dass man beim Aufbau von Argumentationsstrukturen in Zivilprozessen die Außenwirkung stärker mitdenkt, ist doch nicht per se schlecht. Und dass dieses Thema überhaupt aufkommt, hat ja auch einen erfreulichen Anlass: Remote-Verhandlungen können Verfahren effizienter machen. Aber wenn es nicht mehr den Saal gibt, in den sich jedermann als Zuhörer auf die Bank setzen kann, dann muss man eben neue Wege finden, eine Öffentlichkeit herzustellen. Über Streaming geht das – und der Nebeneffekt ist die höhere Transparenz.

Haben Sie noch einen Profi-Tipp für Anwältinnen und Anwälte, die vielleicht demnächst zum ersten Mal live online verhandeln?
Ich denke, wir haben nach vier Jahren „Zoom“ und „Teams“ mittlerweile eine Menge anwaltlicher Medienprofis da draußen. Ein Punkt aber vielleicht doch: Soweit während der Verhandlung auf die Robe verzichtet werden dürfte, bitte keinen Hahnentritt vor der Kamera. Karomuster in den Anzügen mögen chic sein. Aber mit dem Flimmern macht man sich wohl wenig Freunde da draußen.

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