Debatte

Ist die Singularzulassung beim BGH noch zeitgemäß?

Wer vor das oberste Zivilgericht in Karlsruhe ziehen will, braucht einen am Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt. Infolge des aktuell laufenden Auswahlverfahrens für BGH-Anwälte ist die Debatte um die sogenannte Singularzulassung nun neu entflammt. BGH-Anwalt Matthias Siegmann und Marc Wesser, Vorstandsmitglied der RAK Berlin, vertreten dazu konträre Positionen.

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„Waffengleichheit in der Revisionsinstanz“

Professor Dr. Matthias Siegmann ist seit 2007 Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof und seit 2016 Honorarprofessor an der Universität Heidelberg.

Die Rechtsanwaltschaft beim BGH, die wie der BGH selbst im nächsten Jahr ihr 75-jähriges Bestehen feiern wird, sieht sich seit vielen Jahren immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt. Diese gipfelt in der Forderung ihrer ersatzlosen Abschaffung. Letztlich konnten sich die Kritiker jedoch zu Recht nie durchsetzen. Warum?

Die Rechtsanwaltschaft beim BGH gewährleistet, dass alle Rechtsuchenden mit ihren Anliegen unabhängig von Gegenstand und Streitwert eine hochqualifizierte rechtliche Vertretung in der zivilrechtlichen Revisionsinstanz zu den gesetzlichen Gebühren erhalten. Jüngstes und sehr überzeugendes Beispiel ist der Dieselkomplex, in dem die für die Verbraucherseite tätigen Kanzleien allein im Jahr 2023 mehr als 250 Revisionszulassungen erreichen konnten. Damit ist zugleich der praktische Nachweis erbracht, dass die Rechtsanwaltschaft beim BGH auch moderne Erscheinungsformen des Zivilprozesses wie Massenklagen erfolgreich den Zivilsenaten des BGHs zu präsentieren weiß.

Dass wir dringend Nachwuchs brauchen, ist unbestritten. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass das jetzt (endlich) angelaufene Wahlverfahren genügend hochkarätigen Bewerberinnen und Bewerbern zu einer BGH-Zulassung verhelfen wird. Mögen diese frischen Kräfte dann so überzeugend und erfolgreich wirken, dass sie gemeinsam mit dem BGH in 25 Jahren die Hundertjahrfeier begehen können – allen Kritikern zum Trotze.

„Revisionsrecht reicht nicht mehr als Spezialisierung“

Marc Wesser ist Mitglied des Vorstands der Rechtsanwaltskammer Berlin, die sich seit 2017 dafür stark macht, die Singularzulassung abzuschaffen.

BGH-Anwälte sind Spezialisten im Revisionsrecht. Für die komplexen Rechtsfragen von heute ist das zu wenig.

Von den 37 derzeit beim Bundesgerichtshof zugelassenen Anwältinnen und Anwälten haben 30 keinen Fachanwaltstitel. Die Zuständigkeit von 13 der derzeit bestehenden 14 Zivilsenate betrifft aber Rechtsgebiete, die vor den Instanzgerichten maßgeblich durch anwaltliche Spezialisten mit Fachanwaltstitel geprägt werden. In der Revisionsinstanz übernehmen dann die BGH-Anwälte, von denen rund 80 Prozent über keine materiellrechtliche Spezialisierung verfügen.

Unklar ist: Wie kann der Austausch zwischen (im Regelfall) neu eingearbeiteten BGH-Richtern und generalistisch tätigen BGH-Anwälten über hochkomplexe Rechtsfragen in sich immer weiter ausdifferenzierenden Rechtsgebieten der Rechtsfortbildung dienlich sein? Üblicherweise ist er auf je einen Schriftsatz und gegebenenfalls ein Rechtsgespräch beschränkt.

Dass eine wesentliche Korrektur der BGH-Rechtsprechung zur Haftung in Dieselfällen letztlich durch eine Vorlage eines Landgerichts an den Europäischen Gerichtshof erfolgte und nicht durch Bemühungen der BGH-Anwaltschaft, unterstreicht diese Problematik.

Als die Singularzulassung im Jahr 1878 eingeführt wurde, waren Generalisten mit einer bloßen Spezialisierung im Revisionsrecht vor dem Reichsgericht noch auf der Höhe der Zeit. Heute sind sie es nicht mehr.

Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe 04/2024 des JUVE Rechtsmarkt.

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