„Kanzleien haben viel zu viel Angst anzuecken“
Micha Guttmann ist Anwalt, Mediencoach und Berater für strategische Kommunikation, häufig mit Bezug zum Rechtsmarkt.
Lange galt es geradezu als Gesetz der Kommunikation, dass Unternehmen und Kanzleien sich politisch nicht zu äußern haben. In dieser Reinform lässt sich dies nicht mehr vertreten, je mehr sich eine Kanzlei als Teil der werteorientierten, politisch sensibilisierten Gesellschaft begreift – und die Werte betont, für die sie steht. Das geschieht zunehmend, getrieben von einer neuen Generation von Mitarbeitern, die fragen: Wofür steht mein Unternehmen, meine Kanzlei? Dies ist eine positive Entwicklung.
Man kann auf Dauer nicht glaubhaft Werte hochhalten, wenn man im entscheidenden Moment dann nicht auch den Mund aufmacht. Auch Kanzleien sollten sich hier mutiger positionieren – wie jetzt nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel mit seinen Auswirkungen.
Wenn in Folge des Terroranschlags Juden sich auch in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, dürfen Kanzleien, auch als Teil der dritten Staatsgewalt, nicht mehr aus Prinzip schweigen. Natürlich kann man sich nicht zu jedem Unrecht auf der Welt positionieren. Dies allerdings als Begründung zu nehmen, sich grundsätzlich nie zu äußern, halte ich für ein Totschlagargument. Entscheidend ist doch, inwieweit wir konkret und emotional betroffen sind.
Kanzleien sind bisher zu ängstlich, anzuecken und damit möglicherweise ihre geschäftlichen Interessen zu schädigen. Unsere Erfahrung: Dies ist nicht der Fall. Darüber sollten sich die Kanzleimanager mal Gedanken machen.
„Wo fängt man an, wo hört man auf?“
Dr. Thomas Kapp war viele Jahre als Wirtschaftsanwalt und Partner bei Luther tätig. Heute ist er Business Coach für Anwälte und Unternehmer.
Wir leben in einem freien Land. Kanzleien können zu politischen Themen und Skandalen Stellung nehmen. Aber sollten sie es tun? Ich sage nicht grundsätzlich nein, meine aber: Sie sollten es sich sehr gut überlegen.
Erstens: Wo fängt man an, wo hört man auf? Bei Putins Angriffskrieg und beim Hamas-Terror in Israel ist man sich vielleicht schnell einig. Aber was ist mit Corona-Impfung, Rechtsextremismus, Folter in China, Kinderarbeit im Kongo, Klimawandel, Trump und so weiter? Ist man sich bewusst, dass man sich bei selektiven Stellungnahmen auch angreifbar macht, weil man zu anderen wichtigen Themen schweigt?
Zweitens: Wie wird in Großkanzleien ein richtiges Meinungsbild erstellt? Befragung aller Mitarbeiter? Oder ist das Management zuständig? Die Partner? Alle Anwälte? Wie geht man mit internen Meinungsverschiedenheiten um?
Drittens: Inwiefern werden Mandanteninteressen berücksichtigt? Ist die Kanzlei bereit, Mandate zu verlieren oder Reputationsschäden in Kauf zu nehmen?
Viertens: Wie geht man damit um, wenn es zu Shitstorms und Drohungen im Netz kommt? Fünftens: Macht man die Verlautbarung aus tiefer Überzeugung oder nur, um die Reputation zu befördern? Was bezweckt die Kanzlei überhaupt mit solchen Stellungnahmen?
Wenn man all diese Fragen antizipativ durchdacht und für die Kanzlei eine positive Antwort gefunden hat, hat es die Contra-Position in der Tat schwer – aber auch nur dann!
Der Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe 12/2023 des JUVE Rechtsmarkt.