Interview

„Der Krieg ist ein Stresstest für das Kanzleimanagement“

Vor genau einem Jahr hat das russische Militär die Ukraine angegriffen. Seitdem befindet sich das Land im Kriegszustand. JUVE sprach gestern Nachmittag zum nunmehr dritten Mal mit Timur Bondaryev, Managing-Partner der ukrainischen Kanzlei Arzinger. Er schildert, wie sich der anhaltende Krieg auf das Rechtsgeschäft ausgewirkt hat und mit welchem Gefühl er in die Zukunft der Kanzlei blickt.

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JUVE: Herr Bondaryev, wie geht es Ihnen und Ihren Mitarbeitenden?
Timur Bondaryev: Wir haben uns mittlerweile an den Krieg gewöhnt. Heute früh waren ein paar Explosionen hier in Kiew zu hören, bei denen es sich aber vermutlich um abgeschossene Drohnen handelt. Größere Luftangriffe sind bisher ausgeblieben. Trotzdem haben wir unsere Mitarbeitende eindringlich gebeten, genau in dieser Woche besonders vorsichtig zu sein und das Büro möglichst nicht aufzusuchen. Für manche ist das Büro aber tatsächlich sicherer als das eigene Zuhause, denn wir können unsere Tiefgarage als Luftschutzbunker nutzen. Deswegen sind viele Mitarbeitende auch heute an ihrem Arbeitsplatz.

Timur Bondaryev

Sind Sie selbst immer im Büro anwesend?
In der Regel schon. Als Managing-Partner möchte ich unseren Mitarbeitenden zeigen, dass ich nicht geflohen bin. Es ist ja kein Geheimnis, dass viele Kanzleien vom Ausland aus verwaltet werden und viele Partner schon in den ersten Tagen des Krieges geflohen sind. Daher haben sie kein Gefühl dafür, wie die Situation hier in der Ukraine ist. Unsere Mitarbeitende legen Wert darauf, dass Partner vor Ort sind und das tägliche Geschehen miterleben. Auch für unsere Mandanten, die im Land geblieben sind, ist Präsenz ganz wichtig.

Wie sieht es derzeit mit Ihren anderen Büros in Lwiw und Odessa aus?
Es wird an allen drei Standorten wieder gearbeitet. Nur in Odessa ist die Lage etwas anders, weil sich die Stadt in der direkten Schusslinie befindet. Dort arbeiten unsere Angestellten von Zuhause aus.

Mit welcher Personalstärke arbeiten Sie momentan?
Mit 80 Leuten, so decken wir die wichtigsten Bereiche ab und sind gut ausgelastet. Vor dem Krieg waren wir mit insgesamt 150 Leuten an allen drei Standorten präsent. Zwischenzeitlich mussten wir stark Personal reduzieren, aber jetzt fangen wir doch wieder an, Leute einzustellen. Vorrangig ehemalige Mitarbeitende, die aus dem Ausland nach Kiew zurückgekommen sind. Die Größe, die wir vor dem Krieg hatten, brauchen wir aktuell aber auch nicht – dieses Land, diese Wirtschaft braucht das aktuell nicht.

Wie sieht Ihr Tagesgeschäft konkret aus?
Es hat auf jeden Fall eine Verschiebung stattgefunden, weil die üblichen Hauptgeschäftstreiber – darunter M&A – wegfallen. Dafür wächst in anderen Bereichen der Beratungsbedarf.

Welche Bereiche sind das?
Stark beschäftigt sind wir aktuell im Bereich Wirtschaftskriminalität und was die Verfolgung russischen Kapitals anbelangt. Auch Sanktionen sind ein großes Thema. ‚Damages‘ ist ein weiteres wichtiges Feld: Da sprechen wir sowohl von direkten Schäden als auch von entgangenem Gewinn und Verlust an Marktkapitalisierung. Hier vertreten wir Mandanten, die Verluste in Milliardenhöhe erlitten haben und die deshalb gegen Russland vorgehen wollen. Auch bei den Fusionskontrollen sind wir nach wie vor gut ausgelastet.

Gibt es Rechtsgebiete, in denen Sie neue Mandanten hinzugewonnen haben?
Wir beraten eine Reihe von Wohltätigkeitsorganisationen und NGOs, die für die Ukraine humanitäre Hilfe leisten, im Arbeitsrecht, in Steuerfragen sowie Fragen zur Devisenkontrolle und Unternehmensführung. Hier sind wir als Kanzlei sehr stark involviert und vertreten einige der größten lokalen und internationalen Organisationen, die ihrerseits beispielsweise die Armee, Geflüchtete, Kriegsopfer und Waisenkinder unterstützen. Früher ist dieser Beratungsarm bei uns sehr klein gewesen, aber jetzt wächst er aufgrund der aktuellen Umstände rasant.

Handelt es sich dabei dann um Pro-Bono-Projekte?
Nicht ausschließlich. Ab und zu müssen wir pro bono arbeiten, aber oft sind das recht interessante Mandanten. Da dürfen wir zwar nicht die höchsten Stundensätze berechnen, aber trotzdem lässt sich damit Geld verdienen und es ist übrigens auch für unser Personal wichtig.

Inwiefern?
Im Grunde hat hier jeder jemanden in der Familie – ob Bruder, Onkel oder Vater –, der an der Frontlinie kämpft. Indem unsere Mitarbeitenden in ihrer täglichen Arbeit NGOs unterstützen, die sich ihrerseits für die Armee einsetzen, können sie einen eigenen Beitrag leisten. Das wirkt dem Gefühl der Machtlosigkeit entgegen.

Welche Herausforderungen sehen Sie in nächster Zeit auf die Kanzlei zukommen?
Unvorhersehbarkeit ist wahrscheinlich unser größtes Problem. Wir waren sehr vorsichtig mit den Finanzen und können daher nach wie vor die Kosten decken, aber von größerem Profit sprechen wir hier nicht. Es ist wichtig, dass wir erst einmal untertauchen und die Kanzlei für die Zeit nach dem Krieg vorbereiten. Auch das Thema Personalmangel wird uns in der Zukunft beschäftigen, weil viele Kollegen ins Ausland gegangen sind und nicht mehr zurückzukehren scheinen. Vermutlich werden wir nach Kriegsende ein großes Defizit an qualifizierten Mitarbeitenden haben. Der Krieg ist letzten Endes ein Stresstest für das Kanzleimanagement. Für uns heißt es: Weiterhin resistent bleiben und fortbestehen.

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