JUVE: Deutschland hinkt bei der Digitalisierung der Justiz anderen Ländern hinterher. Was sind die Ziele des Legal Tech Colab?
Dr. Stefan Blenk: Der Nachholbedarf bei der Digitalisierung und Automatisierung der gesamten Rechtsbranche ist unbestreitbar. Deshalb wollen wir, dass in Deutschland und Europa international erfolgreiche High-Tech-Start-ups entstehen, die rechtliche Problemlösungen besser, schneller und für alle zugänglich machen. Die Start-ups sollen auf Augenhöhe mit denen aus den USA, Kanada oder Großbritannien in der Champions League spielen.
Wie sieht der Status Quo aus?
Wir sehen viele Gründerteams mit unglaublich hohem Potenzial. Allerdings versuchen sie häufig, ihre Geschäftsmodelle auf Low-Tech aufzubauen. Das führt oft dazu, dass der Nutzen eingeschränkt ist und das Geschäftsmodell nicht international skalierbar ist. Wir sind aber überzeugt, dass deutsche und europäische Start-ups auch im Rechtsbereich ganz vorne mitspielen können.
Schauen wir uns beispielsweise hervorragende Start-ups in anderen Sektoren an: Mit Celonis ist zu meiner Freude derzeit nicht etwa ein Modehändler, sondern ein hochinnovativer Pionier im Bereich des ‚Process Mining‘ das derzeit wahrscheinlich höchstbewertete Start-up Deutschlands. Ein starker Beleg dafür, dass wir hier mit unserer vorhandenen High-Tech-Kompetenz Unternehmen ‚made in Germany‘ aufbauen können.
Im Bereich Deep-Tech sieht es nicht anders aus: Mit Proxima Fusion haben wir beispielsweise ein Start-up in den Programmen von UnternehmerTUM und den TUM Venture Labs, das sich erfolgreich anschickt, die Kernfusion als heiligen Gral der Physik kommerziell umzusetzen. Ein fantastisches Team, das auf Augenhöhe mit den Playern in den USA spielt.
Nun gilt es, diese technologische Schaffenskraft in Deutschland auch für die Disruption der Rechtsbranche fruchtbar zu machen. Dazu bedarf es vor allem eines Ökosystems, in dem sich Legal-Tech-Start-ups entfalten können, und des Einsatzes von Hochtechnologien, etwa der Blockchain und der neuen Sprachmodelle wie GPT-4. Sie eignen sich besonders für die Anwendung auf die Geschäftsprozesse der Rechtsbranche.
Sprachmodelle basieren auf einem großen Datenpool – woher stammt dieser?
Für Start-ups, die ihr Geschäftsmodell auf modernen Sprachmodellen aufbauen wollen, sind große Mengen qualitativ hochwertiger Daten die entscheidende Zutat für den Erfolg! Im juristischen Kontext sind Gerichtsurteile die wichtigste Datenquelle. Der Zugang zu Gerichtsurteilen ist in Deutschland bislang jedoch nur sehr eingeschränkt möglich.
Der bayerische Staatsminister der Justiz, Georg Eisenreich, und wir setzen uns daher dafür ein, die Anzahl der veröffentlichten Urteile signifikant zu erhöhen. Dies würde auch den Start-ups zugutekommen, etwa beim Training eigener Sprachmodelle.
Dieses Vorhaben ist nicht trivial, da die Inhalte vollständig anonymisiert sein müssen. Das bayerische Justizministerium hat in einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg jedoch bereits einen ersten Prototypen erarbeitet, sodass die automatische Anonymisierung von Urteilen in Zukunft möglich sein könnte. Eine automatische Anonymisierung bildet die Basis für die Erhöhung der Veröffentlichungsquote, denn händisch ist das nicht leistbar.
Welche technischen Ressourcen stehen Gründerinnen und Gründern außerdem zur Verfügung?
Gemeinsam mit unserem Partner Aleph Alpha entwickeln wir ein eigenes Sprachmodell, das auf juristischen Dokumenten aus dem deutschen und englischen Rechtsraum und auf zehn gängigen juristischen Anwendungsfällen trainiert wird. Unsere Start-ups können dieses juristische Sprachmodell kostenlos als Basis für ihre Geschäftsmodelle nutzen.
An welchem Punkt setzt die Förderung durch das Legal Tech Colab an?
Erfolgreiche Start-ups brauchen neben einem herausragenden Team und einer sehr guten Idee im Wesentlichen drei externe Ressourcen, um zu gedeihen. Und die waren in Deutschland im Rechtsbereich bisher nicht oder nur sehr rudimentär vorhanden: ein gutes Ökosystem, externes Know-how und Venture Capital. Hier setzt das Legal Tech Colab an: In unserem strukturierten Programm unterstützen wir Gründerinnen und Gründer von der absoluten Frühphase ihres Unternehmens auf dem Weg zur Marktreife sowie bei der Seed-Finanzierung.
Zu Beginn können wir beispielsweise dabei helfen, geeignete Mitgründerinnen und -gründer zu finden und erste Softwarelösungen zu entwickeln. Kern unseres Programms ist die Betreuung durch unsere Mentorinnen und Mentoren, die Möglichkeit, auf unser Netzwerk zu Wagniskapitalgebern zuzugreifen sowie die Vermittlung des notwendigen Know-how durch die Inkubatoren von UnternehmerTUM. In allen Phasen stehen den Teams auch Stipendien und Arbeitsplätze zur Verfügung.
Wie viele Start-ups haben Sie aktuell im Förderprogramm?
Seit unserem Start im Sommer 2022 haben wir von über 70 Interessenten bereits acht Start-ups in unser Programm aufgenommen. Drei dieser Teams haben bereits eine Seed-Finanzierung in jeweils siebenstelliger Höhe erhalten.
Wie ist das Legal Tech Colab strukturiert?
Um unser Ziel zu erreichen, erfolgreiche, international skalierbare High-Tech-Start-ups im Rechtsbereich entstehen zu lassen, bedarf es eines Hubs, der Expertinnen und Experten aus der Start-up-Welt und der Rechtsbranche zusammenbringt. Sie kommen aus VC-Fonds, Rechtsabteilungen, Großkanzleien, der Justiz und Wissenschaft. Dieses Netzwerk pflegen wir unter anderem durch regelmäßige Branchenevents.
Zuletzt konnten wir beispielsweise neben Georg Eisenreich auch Dr. Theresa Ehlen von Freshfields Bruckhaus Deringer, Dr. Jan Querfurth von BMW, Dr. Pierre Zickert von Hengeler Mueller und Dr. Hariolf Wenzler von Ypog in einem viel beachteten Panel versammeln. Es ist vor allem der Initiative von Georg Eisenreich zu verdanken, dass dieser Hub entstanden ist und stetig wächst. Um ihn zu etablieren, hat sich das Bayerische Staatsministerium der Justiz mit UnternehmerTUM, Europas größtem Zentrum für Innovation und Unternehmensgründungen, und den TUM Venture Labs zusammengeschlossen.
Um das Programm des Legal Tech Colab für die Start-ups kostenfrei zu gestalten, basiert die Finanzierung auf einer Förderung durch das Bayerische Staatsministerium der Justiz in Höhe von bis zu einer Million Euro jährlich sowie auf Sponsoring durch Unternehmen und Kanzleien.
Vom Diesel zur Digitalisierung
Dr. Stefan Blenk ist Managing Director des Legal Tech Colab. Der 39-Jährige ist Rechtsanwalt und gründete vor seinem Wechsel zum Legal Tech Colab ein eigenes Start-up im Bereich der automatisierten Rechtsprechungsprognose. Zuvor war er mehrere Jahre bei der internationalen Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer tätig, zuletzt als Principal Associate. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit im Bereich Gesellschaftsrecht/M&A kreierte und leitete er dort die zentrale Case-Management-Plattform für alle deutschen VW-Dieselverfahren und war im Rahmen des Freshfields Lab für die Kooperation mit Start-ups verantwortlich.
Das Interview stammt aus der aktuellen Ausgabe 07/2023 des JUVE Rechtsmarkt.