Schiedsgerichte lösen Konflikte für andere. Sie haben aber auch ihre eigene, innere Konflikte, und ein Klassiker ist dieser: Wie lässt es sich verhindern, dass bei kleinen Streitwerten am Ende das Schiedsverfahren selbst unverhältnismäßige Kosten verursacht? Eine Lösung: Man kann die Verfahren günstiger führen – weniger Schiedsrichter, weniger Verwaltung. Treibt man es dabei aber zu weit, leidet die Qualität der Entscheidungen. Mit dieser Gratwanderung müssen sich alle Konfliktlöser befassen.
Zum März führt das Schiedsgericht der Internationalen Handelskammer (ICC) neue Regeln für Schnellverfahren ein. Damit ist die ICC später dran als andere Schiedsorganisationen. „Es gibt unter den etablierten Schiedsorganisationen einen Wettbewerb“, sagt Robert Hunter, Partner bei Osborne Clarke. Jeder will den Nutzern signalisieren, dass seine Verfahren die schnellsten, effektivsten, günstigsten sind. „Nahezu jede wichtige Schiedsorganisation hat deshalb in den vergangenen Jahren Regeln für beschleunigte Verfahren eingeführt.“
Einzelschiedsrichter selbst dann, wenn es anders vereinbart war
Da aber die ICC nun einmal die bekannteste Schiedsorganisation ist, wird in der Fachwelt jede Silbe des neuen Regelwerks analysiert. Die Regeln für schnellere Verfahren (Expedited Procedure Rules) werden künftig automatisch auf alle Verfahren mit einem Streitwert unter 2 Millionen US-Dollar angewendet. Neu ist: Die Schiedssprüche müssen innerhalb von sechs Monaten nach Beginn der Verhandlungen ergehen. Zudem gibt es keine Dokumentation des Schiedsauftrags (Terms of Reference), und die Fälle können nach Aktenlage ohne Anhörung, zusätzliche Dokumente oder Zeugenvernehmungen entschieden werden. Die Frist für die Entwicklung der Verfahrensordnung wird verkürzt.
Besonders umstritten ist ein Passus zur Besetzung des Schiedsgerichts: Das Gericht kann in Schnellverfahren einen Einzelschiedsrichter ernennen – selbst wenn die Parteien etwas anderes vereinbart haben. „Ich halte es für problematisch, wenn die Rolle der ICC zu stark wird und die Autonomie der Parteien beschränkt“, sagt Dr. Patricia Nacimiento, Partnerin bei Herbert Smith Freehills, mit Blick auf die Einzelschiedsrichter-Regelung. Damit ist sie nicht allein.
Auch die Schwelle, bis zu der künftig automatisch Schnellverfahren angesetzt werden, hält Nacimiento für bedenklich: „Es gibt sehr grundsätzliche und wesentliche Fragen mit kleinerem Streitwert.“ Die ICC aber fasst alles unter 2 Millionen Dollar als „small claims“ zusammen, insgesamt sind dies etwa ein Drittel der Verfahren. „Das könnte aus der Sicht einiger Unternehmen als Arroganz aufgefasst werden.“
Droht die Anfechtung von Schiedssprüchen wegen neuer Regeln?
Zwar können die Parteien auch bei geringeren Streitwerten auf ein Dreierschiedsgericht bestehen – aber nur, wenn sie sich einig sind. Ist eine Partei für einen Einzelschiedsrichter und die andere für ein Dreierschiedsgericht, ernennt die ICC künftig bei entsprechendem Streitwert einen Einzelschiedsrichter. Auch Dr. Lars Markert, Assoziierter Partner bei Gleiss Lutz, findet, dass man darin einen Eingriff in die Parteiautonomie sehen kann. Er gibt aber zu bedenken: „Letztlich ist die Wahl der ICC-Regeln mit ebendieser Bestimmung auch Ausfluss der Parteiautonomie.“
Mit anderen Worten: Wer in Schiedsklauseln ab März die ICC wählt, weiß, worauf er sich einlässt. Damit es auch wirklich jeder mitbekommt, trommelt die Organisation seit Monaten. Aus gutem Grund: In der Neuregelung steckt der Keim für künftige Probleme bei der Vollstreckbarkeit von Schiedssprüchen. „Muss nämlich eine Partei, anders als zuvor vertraglich vereinbart, einen Einzelschiedsrichter akzeptieren, sieht sie sich eventuell versucht, dies als Verfahrensfehler anzugreifen – schon aus taktischen Gründen“, sagt Markert. „Es wäre also ein Hebel, den Schiedsspruch aus formalen Gründen anzufechten, und zumindest in weniger schiedsfreundlichen Jurisdiktionen ist noch unklar, wie die Gerichte darauf reagieren werden.“
Mehr Druck, weniger Geld – harte Zeiten für Jung-Schiedsrichter
Der Berliner Schiedsrechtler Dr. Philipp Wagner kritisiert: „Bei beschleunigten Verfahren sinken die Schiedsrichterhonorare, während die Bearbeitungsgebühren der Institution unverändert bleiben – das ist einigermaßen skurril.“ Eine mögliche Folge: „Kleinere Verfahren werden mehr noch als bisher nur für junge Schiedsrichter interessant, die sich einen Track-Record aufbauen.“
Auch Markert glaubt, dass die neuen Regeln Auswirkungen auf den Nachwuchs haben – allerdings womöglich andersherum: „Bisher waren kleinere Schiedsverfahren gewissermaßen ein Trainingsplatz.“ Nach den neuen Regeln aber steigen die Anforderungen: Die Last der Entscheidung lastet auf den Schultern eines Einzelnen – und das unter deutlich erhöhtem Zeitdruck. Kleine Verfahren eignen sich also weniger als bisher für Anfänger. Dass in Schnellverfahren die Schiedsrichtervergütung sinkt, dürfte laut Markert eine weitere Nebenwirkung haben: „Angestellte Nachwuchsschiedsrechtler könnten es also schwerer haben, ihren Kanzleien entsprechende Mandate schmackhaft zu machen.“ (Marc Chmielewski)
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