Interview

„Wir können Nachbarländer zu präventiven Maßnahmen für den Kriegsfall beraten“

Am 24. Februar 2022 griffen russische Streitkräfte die Ukraine an. Nur wenig später sprach JUVE zum ersten Mal mit Timur Bondaryev, Managing-Partner der ukrainischen Kanzlei Arzinger. Er berichtet uns seitdem regelmäßig vom Leben und Arbeiten unter Kriegsbedingungen. Wie hat sich der nun knapp zwei Jahre anhaltende Krieg auf das Rechtsgeschäft ausgewirkt und vor welchen Herausforderungen steht das Kanzleimanagement aktuell?

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Ein zerstörtes Hochhaus in Kiew. In der ukrainischen Hauptstadt befindet sich auch das Headquarter der Kanzlei Arzinger.
Timur Bondaryev

JUVE: Herr Bondaryev, wie geht es Ihnen und wo befinden Sie sich gerade?
Timur Bondaryev:
Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Ich bin derzeit in Kiew und eigentlich jeden Tag im Büro. Ab und zu pendle ich auch in eines unserer anderen Büros nach Lemberg oder Odessa. Unsere 12 Partner sind alle am Standort Kiew angedockt. In Lemberg und Odessa arbeiten aktuell nur Angestellte, wobei wir das Büro in Odessa immer noch geschlossen halten, weil es sich leider in der Schusslinie befindet und nicht so gut geschützt ist wie unser Kiewer Büro. Das Sicherheitsrisiko wollen wir daher nicht tragen. Die Angestellten dort arbeiten vollständig von zu Hause, nehmen aber Gerichtstermine wahr und treffen Mandanten. Wir profitieren sehr davon, dass wir mit Lemberg ein Büro im Westen der Ukraine haben, da der Westen als sehr sicher gilt und nur selten von Raketenangriffen betroffen ist. Dort arbeiten wir – ebenso wie in Kiew – ganz normal und sind bestens ausgelastet.

Spüren Sie Personalmangel? Viele Menschen sind ja zu Beginn des Krieges geflohen oder kämpfen aktuell an der Front …
Das ist richtig, aber die gute Nachricht ist, dass mittlerweile viele Menschen aus dem Ausland auch wieder zurückkehren. Nichtsdestotrotz besteht die Sorge, dass unsere High Performer eingezogen werden. Noch dazu ist es schwierig, neues Personal zu bekommen, weil unter diesen Bedingungen niemand die Stelle wechselt.

Was heißt das in konkreten Zahlen, wie groß ist Ihre Kanzlei derzeit?
Wir sind aktuell wieder bei rund 90 Leuten an allen drei Standorten, darunter 60 Juristinnen und Juristen. Vor dem Krieg zählte unsere Kanzlei insgesamt um die 130 Mitarbeitende. Davon sind etwa 40 unmittelbar vor dem Krieg oder kurz nach dessen Ausbruch ins Ausland geflohen und dort bei befreundeten Kanzleien untergekommen. 2022 mussten wir unsere Aktivitäten sehr stark zurückfahren und einige Umstrukturierungen innerhalb der Kanzlei vornehmen, sodass wir im Juni 2022 nur noch rund 55 Mitarbeitende hatten. Inzwischen konnten wir uns fast verdoppeln und wollen in dieser Größe konsolidieren.

Gerade wurde unser Gespräch durch einen Luftalarm unterbrochen – wie oft kommt das aktuell vor?
Im Grunde jeden Tag, manchmal auch öfters. Allerdings wird der Alarm sehr präventiv ausgelöst, das heißt auch wenn die Raketenangriffe Kiew nicht betreffen. Deshalb bin ich gerade auch sehr entspannt, denn es handelt sich um einen allgemeinen Luftalarm, der die ganze Ukraine betrifft. Wir haben dann 30 bis 40 Minuten Zeit, einen Shelter aufzusuchen. Unter unserem Büro befindet sich eine Tiefgarage, die uns als Luftschutzbunker dient. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir dann nochmal informiert, welches konkrete Ziel die Raketen tatsächlich anfliegen.

Am Freitag hatten Sie Ihr jährliches Partner-Treffen – welche Themen wurden dort besprochen?
Das Treffen ist als Retreat gedacht und findet außerhalb von Kiew statt. Dort kommt das gesamte Management zusammen. Bei dem Treffen haben wir unser neues Finanzjahr vorbereitet, das Anfang April startet, und über das Budget sowie die Kanzleistrategie gesprochen.

Arbeiten Sie profitabel oder geht es aktuell vorrangig darum, die Kosten zu decken?
Wir sind zwar sehr gut ausgelastet, aber die Profitabilität könnte trotzdem besser sein. Viele ukrainische Mandanten sind nicht bereit, in der aktuellen Situation gute Stundensätze zu zahlen, daher sind internationales Geschäft und Projekte, die von internationalen Mandanten beziehungsweise Anwaltskanzleien kommen, die Hauptprofittreiber. Hinzukommt, dass einige unserer Wettbewerber aggressives Preis-Dumping betreiben, um ihre Leute beschäftigt zu halten. Hier gehören die Big-Four-Gesellschaften zu unseren größten Konkurrenten, weil sie von ihren Headquarters getragen werden und aus strategischen Gründen im Land bleiben wollen. Sie sind daher bereit, für sehr niedrige Stundensätze zu arbeiten. Profitabel sind wir als Kanzlei deshalb, weil wir in den vergangenen Jahren sehr konservativ gerechnet und Geschäftsmodell sowie Kostenpositionen sehr effizient gestaltet haben. Wir bilden zudem große Reserven und halten uns bei der Gewinnverteilung sehr zurück. Schließlich wissen wir nicht, was morgen auf uns zukommt.

Wie wirkt sich das konkret auf Ihr Vergütungssystem aus?
In der Vergangenheit haben wir uns immer wieder über unsere Umlaufmittel finanziert. Deshalb haben wir uns in der Partnerschaft darauf geeinigt, die Gewinnverteilung über einen längeren Zeitraum zu strecken. Früher war für die Gewinnverteilung ein sechsmonatiger Zeitraum vorgesehen und jetzt sprechen wir von rund anderthalb Jahren. Was unser Personal anbelangt, halten wir die Gehälter relativ überschaubar, damit die Fixkosten nicht zu stark ansteigen. Dafür zahlen wir sehr viel großzügigere, leistungsbezogene Boni als in der Vergangenheit, sodass diese im Grunde den Großteil des Gehalts ausmachen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Fixgehälter reichen allemal zum Leben, doch das große Plus kommt mit den Bonuszahlungen.

Welcher Gedanke steckt hinter dieser Anpassung?
Wir erhalten uns damit die nötige Flexibilität im Falle einer Rezession. Sollten wir tatsächlich zeitweilig kein Geschäft haben, haben wir zumindest auch keine große Belastung durch hohe Fixgehälter. Wir würden dann unsere Reserven nutzen, um die niedrigeren Gehälter zu zahlen bis wieder neues Geschäft reinkommt.

Welche Beratungszweige sind durch den anhaltenden Krieg eingebrochen?
Das nationale Transaktionsgeschäft steht nahezu vollständig still. Die meisten Transaktionen, an denen wir arbeiten, sind globale. Wenn es da Bezüge zur Ukraine gibt, übernehmen wir für internationale Kanzleien den ukrainischen Transaktionsteil, etwa die Due-Diligence-Prüfung oder Fusionskontrolle. Unsere Verbindungen zum globalen Markt haben uns sehr geholfen und letztlich auch unsere Leute in Lohn und Brot gehalten, denn etwa 50 Prozent des Geschäfts bekommen wir von ausländischen Kanzleien ohne Niederlassung in der Ukraine. Auch die 40 Mitarbeitenden, die zu befreundeten Kanzleien ins Ausland gewechselt sind, schicken uns Geschäft.

Gibt es denn auch Beratungszweige, die besonders stark nachgefragt werden und viel Gewinn abwerfen?
Eine sehr interessante Entwicklung, die ich so nicht habe kommen sehen, ist das gestiegene Interesse unserer Nachbarländer an Präventivberatung. Viele fürchten einen potenziellen russischen Angriff und wir verfügen über Erfahrungen aus erster Hand. Wir beraten Unternehmen etwa zu Risk Management, Cybersecurity, Versicherungsthemen und Themen wie der Mobilisierung des Personals. Mittlerweile haben wir in diesem Bereich Dutzende Projekte. Hier lassen sich auch richtig gute Stundensätze verrechnen.

Apropos Cybersecurity: Waren Sie in der Kanzlei bereits von Cyberangriffen betroffen?
Wir waren sehr gut vorbereitet, da der Krieg in der Ukraine ja bereits seit der Annexion der Krim 2014 anhält. Cyberangriffen von russischer Seite waren wir bereits davor ausgesetzt. Dementsprechend haben wir kräftig in die Sicherheit unserer IT-Systeme investiert. Wir hatten zwar damit gerechnet, dass es zu Komplettausfällen des Internets kommen würde, das ist aber tatsächlich nicht der Fall gewesen. Im vergangenen Jahr gab es einige Blackouts, als Russland unsere Energieinfrastruktur angegriffen hat, doch wir konnten glücklicherweise auf das Satelliten-Internet-System ‚Starlink‘ zurückgreifen.

Welche anderen Rechtgebiete stehen aktuell im Vordergrund?
Das Kartellrecht ist ebenfalls stark gefragt. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Anmeldungsschwellen für Unternehmenszusammenschlüsse in der Ukraine sehr niedrig sind und auch bei globalen Transaktionen greifen. Im Durchschnitt haben wir 30 Fusionskontrollanmeldungen pro Jahr, sodass Fusionskontrollen unser Brot- und Buttergeschäft sind. Stark beschäftigt sind wir auch in den Bereichen Wirtschaftskriminalität, Restrukturierung, Steuerstreitigkeiten und Sanktionsgeschäft. Hier geht der Trend hin zur vollständigen Entflechtung, denn die russische Wirtschaft war in der Vergangenheit stark und auf allen Ebenen mit der ukrainischen Wirtschaft verwoben. Neben den Kämpfen an der Front wehrt sich die Ukraine auch gegen russische strategische Investitionen. In dem Zusammenhang werden Assets analysiert und viele Sanktionen verhängt. Ein weiteres wichtiges Feld sind ‚Damages‘. Hier laufen bereits Schadensersatzklagen, denn wir sprechen von Milliardenbeträgen, die mit jedem Tag steigen. Doch leider gibt es derzeit keine zuverlässigen Wege, auf denen man die Klagen einbringen kann. Investitionsschiedsverfahren kommen nur für größere Fälle – ab 100 Millionen Euro – infrage, damit es sich überhaupt lohnt. Hier halten es viele Mandanten mit dem Grundsatz: Don’t throw good money after bad.

Haben derlei Schadensersatzklagen denn zuletzt zugenommen?
Zu Beginn des vergangenen Jahres waren viele betroffene Mandanten noch sehr zurückhaltend, ob sie eine Klage einbringen sollen. Aber seit Mitte 2023 trauen sich viele Mandanten aus der Deckung. Das hat dazu geführt, dass unser Arbitration-Team sehr gut ausgelastet ist.

Haben Sie den Eindruck, dass ausländische Unternehmen bereits jetzt in die Zukunft des Landes investieren?
Wir sehen erste Schritte in Form von Aufbauprojekten, insbesondere im Westen der Ukraine. Viele Unternehmen, die bereits seit Jahren in der Ukraine präsent sind, nehmen jetzt Geld in die Hand, um bestehende Produktionsstandorte zu expandieren. Das betrifft vor allem die Baustoffindustrie und die Branche der ‚Fast Moving Consumer Goods‘, kurz FMCG. Diejenigen, die sich hier gut auskennen, verstehen, dass der Krieg früher oder später zu Ende ist und wollen schon jetzt investieren. Da kommen auch die Staatsgarantien ins Spiel, die Länder wie Deutschland Unternehmen für Investitionen in der Ukraine anbieten. Hier gibt es bereits erste Fälle, auch im Bereich der Rüstungsindustrie. Diese Entwicklungen haben wiederum sehr stark zur Auslastung unseres Büros in Lemberg beigetragen.

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