JUVE: Der neue Referentenentwurf – Innovationsschub für mündliche Verhandlungen oder an der Realität der häufig noch analogen Gerichte vorbei?
„Beides. Die Durchführung virtueller Gerichtsverhandlungen wird vielfach an der noch fehlenden technischen Ausstattung der Gerichte und dem noch fehlenden Rüstzeug bei sonstigen Beteiligten wie ehrenamtliche Richtern, Anwälten, Zeugen und Sachverständigen scheitern. Die zu erwartende gesetzliche Neuregelung wird jedoch zweifelsohne zu einem Innovationsschub führen.“ Thomas Niklas, Partner bei Küttner
„Dass die Arbeitsgerichte nun in kürzester Zeit die Nutzung von Streaming-Diensten wie Zoom und Skype lernen müssen, mag man als Innovationsschub sehen. Der eigentliche Innovationsschub liegt doch darin, dass der Staat den Arbeitsgerichten tatsächlich die finanziellen Mittel für den flächendeckenden Erwerb von Lizenzen zur Verfügung stellt. Hierfür hätte es jedoch keiner Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes und schon gar nicht einer Rechtsgrundlage bedurft, die es dem Gericht ermöglicht, die Öffentlichkeit nicht nur unter den engen Voraussetzungen des Artikels 172 des Gerichtsverfassungsgesetzes auszuschließen.“ Prof. Dr. Marlene Schmidt, Partnerin bei Apitzsch Schmidt Klebe
JUVE: Wie sieht es mit der Einhaltung anderer Gesetze aus bei der Nutzung neuer technischer Übertragungsmethoden?
„Es wird Zeit, dass auch die Arbeits- und Sozialgerichte auf diese Möglichkeiten zurückgreifen. Wie bei vielen Digitalisierungsthemen sind hier noch Punkte offen, bevor es losgehen kann, da der Gesetzesentwurf etliche Fragen unbeantwortet ließ. Dieses betrifft bei den vielfältigen Übertragungswegen vor allem den Datenschutz.“ Jörn Kuhn, Partner bei Oppenhoff
JUVE: Ist der Entwurf die willkommene Reduzierung der beträchtlichen Reisezeiten quer durch die Republik?
„Dafür ist er an sich nicht gedacht, sondern als Teil der vorübergehenden Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsrate. Er wird aber hoffentlich der lang ersehnte Anstoß sein für eine Digitalisierung der Justiz. Denn für einen zehnminütigen Gütetermin durch die halbe Republik zu reisen ist in der Tat fragwürdig –sowohl unter wirtschaftlichen als auch ökologischen Gesichtspunkten. Die Erfahrung der letzten Wochen hat aber zugleich gezeigt, dass bei virtuellen Verhandlungen die zwischenmenschliche Ebene regelmäßig auf der Strecke bleibt – diese ist aber nicht weniger wichtig als die ‚harten Fakten‘. Insoweit sollte durchaus unterschieden werden zwischen den verschiedenen Arten von Verhandlungsterminen.“ Dr. Tim Wißmann, Partner bei Küttner
„Für eine Reduzierung der Reisezeiten bedarf es der geplanten Novellierung nicht. Paragraph 128a der Zivilprozessordnung, der die Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren erlaubt, kann aber – so man ihn denn aufgrund der gerade geschaffenen technischen Voraussetzungen tatsächlich auch zur Anwendung bringen kann – zur Vermeidung von Reisen beitragen.“ Marlene Schmidt
„Ja. Aber man muss sehen, dass man gleiche Spielregeln für alle hat. Geht eine Partei in den Gerichtssaal und die andere ist per Videoübertragung zugeschaltet, ist schnell das Gefühl da, dass man vor Ort im Gerichtssaal bessere Chancen hat. Dann geht es also doch auf Reisen.“ Jörn Kuhn.
Die Fragen stellte Simone Bocksrocker.