Für Beobachter hat diese Angelegenheit Brisanz, weil die Entscheidung das Instrument des Kronzeugen im Kartellverfahren aushöhlen könnte (Gz. C-2/23). Der Schutz der Erklärung und der Unterlagen von Unternehmen gehört zu den zentralen Elementen, die weiterführende Kartelluntersuchungen erst ermöglichen. Und er ist ein wichtiger Grund, weshalb Unternehmen als Kronzeugen auftreten. Schließlich kann der Status davor bewahren, dass interne Daten aus der Kartelluntersuchung an andere Beschuldigte und Geschädigte gehen – unter Umständen auch Wettbewerber.
„Massiv negative Konsequenzen“
Durch die Causa wird offenbar, welche Fallstricke zwischen den Vorgaben des EU-Wettbewerbsrechts zum Schutz von Kronzeugen und nationalen, strafrechtlichen Regelungen lauern. Die österreichische Rechtsordnung sieht nicht vor, die Akteneinsicht in Unterlagen eines Strafverfahrens dauerhaft und generell zu beschränken – egal ob es sich gegen Personen oder Unternehmen richtet; auch Privatbeteiligte, die zivilrechtliche Ansprüche verfolgen, haben Zugriff.
Der OLG-Senat kommt deshalb zu dem Schluss, dies habe „strafrechtlich wie zivilrechtlich massiv negative Konsequenzen für wettbewerbsrechtliche Kronzeugen“. Es durchbreche den Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen vor Offenlegung.
Der Schutz von kartellrechtlichen Kronzeugen ist für Beobachter EU-weit ein Dauerbrenner, auch wenn die Details sich von Land zu Land unterscheiden. In Deutschland etwa ist ein Unternehmensstrafrecht noch nicht über Entwürfe hinaus gediehen. Unter welchen Regeln zivilrechtliche Anspruchsteller Akteneinsicht in einem Strafverfahren bekommen können, unterscheidet sich ebenfalls deutlich vom österreichischen Recht.
Ausgangspunkt des Ersuchens an das Luxemburger Tribunal sind Beschwerden der Strabag und eines Tochterunternehmens, die beide Kronzeugen im Verfahren um das Baukartell sind (Gz. 27 Kt 12/21y). Gegen sie leitete die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA) parallel ein Ermittlungsverfahren ein (Gz. 29 St 33/16f). Denn es handelte sich um Absprachen in Vergabeverfahren.
Amtshilfe genutzt
Im Zuge dieser Ermittlungen forderte die WKStA im Sommer 2021 auf dem Weg der Amtshilfe die Unterlagen aus dem kartellgerichtlichen Verfahren an. Das Kartellgericht übermittelte diese zwischen August 2021 und Jänner 2022, auch die Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) machte auf Anfrage im Herbst 2021 Dokumente zugänglich. Darauf aufbauend trieb die WKStA ihre Untersuchungen voran und beauftragte die Polizei mit weiteren Schritten.
Gegen dieses Vorgehen wehrten sich die beiden Unternehmen. Sie beantragten bei der WKStA, die Kronzeugenerklärungen und die Details zu den Vergleichen mit der BWB nicht zu den Akten zu nehmen, nicht zu verwerten und von der Akteneinsicht auszunehmen. Daraus entspann sich ein Beschwerdeverfahren vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien und das aktuelle Rechtsmittelverfahren vor dem OLG Wien (Gz. 17 Bs 105/22 y).
Die Kartell- und Strafverfahren im österreichischen Baukartell sind sehr umfangreich. Die Ermittlungen förderten allein für den Zeitraum 2004 bis 2017 bislang 350 bedenkliche Vergabeverfahren zu Tage. Das gesammelte Volumen dieser Aufträge liegt zwischen 50 und 100 Millionen Euro. Allein das Strafverfahren zählt über 850 Beschuldigte und eine Vielzahl an Geschädigten und Opfern.
Keine Geldbuße gegen Kostmann
Mitte Februar veröffentlichte die BWB auch ihre Entscheidung über den ersten Kronzeugen im Baukartell, das Kärntner Bauunternehmen Kostmann. Die Behörde stellte an das Kartellgericht den Antrag, kartellrechtliche Verstöße bei Ausschreibungen festzustellen, beantragte aber keine Geldbuße. Das Unternehmen hatte bereits im Frühjahr 2017 einen Kronzeugenantrag gestellt und als erstes Unternehmen Informationen und Beweismittel vorgelegt. Diese ermöglichten es der BWB nach eigenen Angaben, ihre Untersuchungen maßgeblich auszuweiten. Gegen die Wettbewerberin Pittel + Brausewetter aus Wien beantragte die BWB beim Kartellgericht eine Geldbuße von gut 4,8 Millionen Euro.
Vertreter Strabag, F. Lang und K. Menhofer Baugesellschaft
Petsche-Demmel Pollak (Wien): Simone Petsche-Demmel (Federführung), Christoph Trafoier, Vincent Vertneg; Associate: Paul Schneider (Rechtsanwaltsanwärter; alle Wirtschaftsstrafrecht)
Baker McKenzie (Wien): Andreas Traugott (Kartellrecht), Dr. Alexander Petsche (Konfliktlösung)
Inhouse Recht (Wien): Dr. Michael Lück (General Counsel), Sonja Müllner (Head of Legal) – aus dem Markt bekannt
Vertreter Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, Graz
Dr. Andreas Bernat (Oberstaatsanwalt)
Oberlandesgericht Wien
17. Senat: Alexandra Mathes (Vorsitzende Richterin), Lucie Heindl, Susanne Lehr (Richterinnen)
Hintergrund: Petsche-Demmels Team vertritt die Strabag schon seit mehreren Jahren im strafrechtlichen Verfahren um die Absprachen bei Ausschreibungen im Tief- und Straßenbau. Das Mandat umfasst auch die Strabag-Tochter Lang und Menhofer.
Für den kartellrechtlichen Strang ist das Wiener Team um Andreas Traugott und Dr. Alexander Petsche von Baker McKenzie zuständig. Im Zusammenhang mit dem BWB-Geldbußenantrag an das Kartellgericht im Sommer 2021 beriet auch der auf Kartellrecht spezialisierte Einzelanwalt Dr. Peter Thyri das Unternehmen. Die vorgelagerte interne Untersuchung zu den Kartellvorwürfen bei der Strabag lag bei einem Münchner Team von Latham & Watkins um den Partner Prof. Dr. Thomas Grützner.
Das Wiener Bauunternehmen Pittel + Brausewetter beauftragte in der Kartelluntersuchung nach JUVE-Informationen ein Team von Cerha Hempel. Die Federführung lag beim Leiter der Praxisgruppe, Dr. Bernhard Kofler-Senoner.
Kostmann mit bpv Hügel
Das Kärntner Bauunternehmen Kostmann setzt seit Frühsommer 2017 auf das Kartellrechtsteam von bpv Hügel unter Federführung von Dr. Astrid Ablasser-Neuhuber. Mit beteiligt ist auch Dr. Franz Stenitzer, der vom Frühjahr 2016 bis Ende 2018 als Anwalt bei bpv arbeitete und inzwischen als Einzelanwalt tätig ist; zwischenzeitlich war er Counsel im Team des angesehenen Kartellrechtlers und früheren Freshfields-Partners Dr. Axel Reidlinger. Für das Strafverfahren mandatierte Kostmann den Wiener Anwalt Dr. Christoph Neuhuber.