Konkret ging es um eine Datenpanne bei Facebook, von der weltweit 553 Millionen und in Deutschland 6 Millionen Menschen betroffen waren. Per Scraping – dem ‚Zusammenkratzen‘ von Daten – konnten die Täter in den Jahren 2018 und 2019 nichtöffentliche Handynummern Facebook-Nutzern zuordnen. Diese Datenlisten veröffentlichten sie im Internet. Im nun vor dem BGH verhandelten Fall klagte ein betroffener Nutzer auf Schadensersatz und bekam Recht.
Für die Karlsruher Richter stellte der Kontrollverlust über die eigenen Daten einen Schaden im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung dar. Ein wirtschaftlicher Schaden müsse nicht vorliegen (Az. VI ZR 10/24). Eine konkrete Höhe für den Schadensersatz nannte der BGH nicht. Allerdings hält der Senat bei einem bloßen Kontrollverlust 100 Euro für angemessen.
Sollte es dabei bleiben, wäre der Fall eingetreten, vor dem sich Unternehmen seit Jahren fürchten: Wenn bei derartigen Datenschutzvorfällen kein konkreter Schaden mehr nachgewiesen werden muss, sondern allein schon die Betroffenheit ausreicht, um Schadensersatzansprüche auszulösen – dann können bei Millionen von Kunden auch geringe individuelle Beträge bei betroffenen Unternehmen schmerzhafte Kosten verursachen. Würde jeder der im aktuellen Fall betroffenen Nutzer 100 Euro bekommen, wären das 55 Milliarden Euro für Meta. Nur auf die 6 Millionen Betroffenen in Deutschland bezogen: immer noch 600 Millionen Euro.
Das ist bisher Theorie, und nicht von jedem Datenschutzvorfall sind so viele Menschen betroffen. Trotzdem erhöht das Urteil den Druck: Es zeigt sich, dass Scraping-Fälle, wie sie auch anderswo immer wieder vorkommen, ein hohes wirtschaftliches Risiko für Unternehmen bedeuten. Auf der anderen Seite tun sich für Kanzleien und andere Dienstleister, die massenhaft Ansprüche einsammeln und durchsetzen, große Chancen auf.
OLG Köln muss erneut entscheiden
Mit dem Urteil hat der BGH die Sache zurück an das Oberlandesgericht Köln verwiesen. Dieses hatte vor einem Jahr entschieden, dass der bloße Kontrollverlust zur Annahme eines immateriellen Schadens nicht ausreiche (Az. 15 U 67/23). In erster Instanz hatte das Landgericht Bonn der Klage teilweise stattgegeben und dem Kläger Schadensersatz in Höhe von 250 Euro zugesprochen (Az. 13 O 125/22). Nun muss das OLG Köln sich noch einmal mit dem Fall befassen und eine Entscheidung treffen.
Erstes Urteil in einem Leitentscheidungsverfahren
Im Prozess nutzte der BGH erstmals das neue, Ende Oktober eingeführte Leitentscheidungsverfahren. In Massenverfahren kann Karlsruhe einen Fall herausgreifen und die streitigen Rechtsfragen klären. Anders als zum Beispiel beim Dieselskandal werden die Gerichte so vor einer Flut an Einzelklagen geschützt.
Im Scraping-Vorfall haben sich Tausende Betroffene in Deutschland zu Sammelklagen zusammengeschlossen. Meta lehnt Ansprüche bei diesem Komplex ab, da die Einschätzung des Bundesgerichtshofs in Bezug auf Haftung und Schadensersatz nicht mit der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vereinbar sei.
Vertreter Kläger
WBS Legal (Köln): Christian Solmecke (IT-Recht), Jeremy Gartner; Associate: Moritz Gielen (beide Datenschutzrecht)
Thomas Kofler (Karlsruhe; BGH-Vertretung)
Vertreter Meta
Freshfields (Frankfurt): Dr. Martin Mekat, Dr. Christoph Werkmeister (Datenschutzrecht; Düsseldorf); Associates: Severin Kehrer, Dr. Alice Möller-Roth, Stephan Hofer (beide München), Dr. Sarah Hillebrand (Düsseldorf), Dr. Dawid Ligocki (Berlin), Alexander Malek, Dr. Katharina Knoche (alle Litigation)
Prof. Dr. Christian Rohnke (Karlsruhe; BGH-Vertretung)
Bundesgerichtshof, VI. Zivilsenat
Stephan Seiters (Vorsitzender Richter)
Hintergrund: Freshfields vertritt Meta und mit ihr verbundene Unternehmen seit 2021 in nahezu allen Zivilverfahren mit Endnutzern in Deutschland. Teile des Mandats werden über die 2022 gegründete Mass Claims Unit der Kanzlei abgewickelt, in der Anwältinnen und Anwälte außerhalb der regulären Kanzleihierarchie Massenverfahren führen. Auch zur Aktualisierung von Nutzungsbedingungen hat Freshfields Meta beraten, nachdem der BGH diese 2021 in Teilen für unwirksam erklärt hatte. Ein Team um Freshfields-Partner Mekat hat auch den Internetbroker Scalable beraten, als dieser sich nach einem Datenschutzvorfall zahlreichen Schadensersatzklagen ausgesetzt sah.
Meta arbeitet mit mehreren führenden Kanzleien in Deutschland zusammen. Das aufsehenerregende Verfahren an der Schnittstelle von Datenschutz und Kartellrecht, das nach fünf Jahren, BGH- und EuGH-Urteilen kürzlich mit einer Einigung zwischen Meta und dem Kartellamt endete, führten Latham & Watkins, Gleiss Lutz und WilmerHale gemeinsam. Gleiss vertritt Meta auch in weiteren Verfahren vor dem Kartellamt. WilmerHale ist häufig für Meta im Streit mit Datenschutzbehörden im Einsatz. Weltweit die Hauptkanzlei von Meta für Zivilprozesse ist White & Case, die nach JUVE-Informationen ebenfalls Massenverfahren mit Deutschlandbezug für den Konzern führt.
WBS Legal ist eine auf Medien-, Urheber- und IT-Recht spezialisierte Kanzlei. Solmecke ist auch dank seines Youtube-Kanals einer der bekanntesten deutschen Verbaucheranwälte. Im Scraping-Komplex vertritt WBS (ehemals Wilde Beuger Solmecke), mehr als 4000 Personen, unter anderem den Kläger vor dem Bundesgerichtshof.