„Am Tag des Angriffs war den russischen Kollegen klar, dass ihre Karriere in einer internationalen Kanzlei erst einmal vorbei ist“, erinnert sich Dr. Thomas Heidemann, der seit Mitte der 1990er-Jahre in Russland arbeitete und für CMS Hasche Sigle mehr als 14 Jahre zu 50 Prozent in Moskau aktiv war. Noch am Tag des Angriffs reiste er aus. Die rund 50 russischen Anwältinnen und Anwälte aus dem früheren Moskauer Büro sind seit Mitte letzten Jahres selbstständig und arbeiten als Seamless Legal unter neuer Flagge: „Für sie existiert nun kein großer Tanker mehr, der den Geldfluss sichert.“
Einzig Rödl & Partner und Advant Beiten blieben von den deutschen Kanzleien vor Ort. „Anders als einige andere internationale Kanzleien haben wir in Moskau nie russische staatliche Unternehmen beraten, sondern in erster Linie mittelständische Industrieunternehmen aus Europa, Nordamerika oder Japan und deren russische Tochtergesellschaften oder Joint Ventures“, sagt Falk Tischendorf von Advant Beiten. Wie vor dem Krieg ist er für diese Unternehmen mit zwölf Anwälten in Moskau aktiv. „Die meisten Mandanten sind europäische Mittelständler und Familienunternehmer. Sie sind sehr dankbar, jemanden vor Ort zu haben, der ihre Kultur, Denkweise und Situation versteht.“
In der jetzigen Zeit sei dies für das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt von besonderer Bedeutung. Beispielsweise in Fällen, in denen russische Unternehmen Geschäftspartner aus dem Ausland vor staatlichen Gerichten in Russland verklagen, selbst wenn im Vertrag ein Schiedsgericht vereinbart wurde. „Teilweise ist es für Unternehmen wirklich schwierig, den Markt zu verlassen, ohne sich und ihre lokalen Mitarbeiter strafbar zu machen“, sagt Tischendorf. Mitunter droht zudem das Risiko einer staatlichen Übergangsverwaltung. „Entscheidungen in Deutschland können Geschäftsführungen in Russland schnell in Schwierigkeiten bringen“, so der Anwalt. „Insbesondere deutsche Unternehmen machen sich ernsthafte Gedanken um ihre lokalen Mitarbeiter und lassen ihr Management hier nicht im Regen stehen.“
Exit wird immer schwieriger
Die Hürden für den Ausstieg aus Russland werden immer höher: „Genehmigt wird der Verkauf von Unternehmensanteilen seit Juli nur, wenn zu einem Preis von maximal der Hälfte des Werts verkauft wird, den ein staatliches Gutachten ausweist“, sagt Florian Schneider, der als Managing-Partner Russia für Dentons 20 Jahre vor Ort war. Zusätzlich falle in der Praxis eine Exit-Steuer von mindestens 10 Prozent dieses Werts an. Auf ausländische Bankkonten lässt sich der Kaufpreis nur überweisen, wenn Ratenzahlungen über einen vorgegebenen Zeitraum akzeptiert werden.
Genehmigungen können zudem an Leistungskennzahlen geknüpft sein wie Mindestzahlen bei Mitarbeitenden, Investitionen oder die Erfüllung bestehender Verträge. „Große Konzerne verkaufen gerade für einen Spottpreis an Oligarchen oder chinesische Unternehmen, die dann dort Autos für den russischen Markt produzieren können“, sagt Dr. José Campos Nave, der derzeit noch als Managing-Partner von Rödl für Russland zuständig ist. „Ein Mittelständler macht das nicht. Schätzungsweise 20 Prozent der Unternehmen gehen raus. Der Rest ist immer noch weitgehend investiert.“
Kehrtwende bei Rödl
Ende letzten Jahres kam auch bei Campos Naves Kanzlei die Kehrtwende: Nach mehr als 30 Jahren beschloss die Geschäftsleitung, das Büro in Moskau auf ihren langjährigen Generalbevollmächtigten Alexey Sapozhnikov zu überführen. Am Standort in St. Petersburg gingen die Lichter schon vorher aus. Die Regeln der russischen Regierung für einen Exit treffen nicht nur Mandanten, sondern auch deren Berater. „Man verliert faktisch seine gesamte Investition“, sagt Campos Nave.
In ihren Abschiedsmitteilungen hatten die meisten internationalen Kanzleien angekündigt, dass sie die Kollegen in Moskau weiter unterstützen werden. Teilweise halfen sie bei der Emigration von Mitarbeitenden. Häufig gaben sie Starthilfe für eigene Büros. In der russischen Hauptstadt gibt es nun viele neue Kanzleien, deren Gründer zuvor in internationalen Großkanzleien aktiv waren. Ein Teil des Moskauer Büros von Linklaters firmiert inzwischen als Orion Partners. Weitere Beispiele: Bortkevicha & Partners (ehemals Clifford Chance), Nextons (Dentons), Birch Legal (Eversheds Sutherland), Level Legal Services (Hogan Lovells) oder Melling Voitishkin & Partners (Baker McKenzie).
„Die Neugründung ermöglicht es den Anwälten, auch russische Mandanten zu beraten“, berichtet Dr. Oxana Balayan, die sich schon 2021 mit der Kanzlei Balayan Group selbständig gemacht hat und aktuell für internationale Unternehmen zu M&A-Fragen beim Exit im Einsatz ist. Zuvor leitete sie fast 20 Jahre das Moskauer Büro von Hogan Lovells. Die Anwälte vor Ort seien derzeit viel beschäftigt: „Im internationalen Kapitalmarktrecht sind beispielsweise Experten sehr gesucht, nachdem russische Unternehmen infolge der Sanktionen nicht mehr an internationalen Börsen gehandelt werden und auf die Rechtsberatung westlicher Großkanzleien kaum zählen können.“
Umsatteln auf Ukraine-Desk
Nach jahrzehntelanger Zusammenarbeit mussten Anwälte, die nach Deutschland zurückkehrten, nicht nur Freunde zurücklassen, sondern sich teilweise auch beruflich neu orientieren. So war Dr. Andreas Knaul bis August letzten Jahres 13 Jahre für Rödl als Managing-Partner in Moskau im Einsatz. Nach einem Intermezzo als selbstständiger Anwalt in Berlin leitet Knaul seit Februar den Ukraine-Desk von Luther in der deutschen Hauptstadt.
Beispielsweise berät er Unternehmen aus den Bereichen Sicherheitsdienstleistungen oder Medizintechnik und andere deutsche Mittelständler, die den First-Mover-Moment nutzen wollen. In die neue Kanzlei führte ihn ein langjähriger Kontakt: Mit Luthers Managing-Partner Dr. Markus Sengpiel arbeitete er bereits bei der Vorgängergesellschaft Andersen Legal zusammen. Das Ukraine-Geschäft ist für den 63-Jährigen ebenfalls nicht neu: Vor der Station in Moskau war er drei Jahre Chef des Kiewer Büros der österreichischen Kanzlei CMS Reich-Rohrwig Hainz.
Litigation-Welle rollt an
Schon vor Kriegsbeginn hat sich Noerr nach fast 30 Jahren aus Russland zurückgezogen, weil die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sich immer weiter verschlechterten. Die bisherigen Moskauer Salary-Partner um Standortleiter Stefan Weber übernahmen die lokale Noerr-Gesellschaft und machten sich unter dem Namen Arno Legal selbstständig. „Wir sind sehr froh, dass wir weiterhin eng zusammenarbeiten“, sagt Björn Paulsen, der bis 2014 das Moskauer Büro von Noerr vor Ort leitete und nun von Hamburg und Berlin aus den Russia-Desk verantwortet.
Unter Federführung von Partnerin Olga Mokhonko berieten Arno als Local-Counsel und Noerr als Lead-Counsel in diesem Jahr gemeinsam Mercedes beim Verkauf seines Russlandgeschäfts. „Als nächstes rollt eine Litigation-Welle an, unter anderem, weil infolge der Sanktionen Zahlungen nicht geleistet werden können. Die Verflechtung mit der russischen Wirtschaft ist immer noch sehr groß“, berichtet Paulsen.
Weitere Prognosen zur zukünftigen Entwicklung mag derzeit niemand wagen. „Nachdem der Krieg länger dauert, als viele erwartet hatten, werden die Fragezeichen aber immer größer“, sagt ein Anwalt, der den russischen Markt seit vielen Jahren kennt.