Prof. Dr. Christian Tietje ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Internationales Wirtschaftsrecht der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er leitet dort zudem die Forschungsstelle für Transnationales Wirtschaftsrecht.
JUVE: Die Sanktionen der EU zielen längst nicht mehr nur auf den russischen Staat, sondern auch auf Individuen. Ließe sich das Geld russischer Oligarchen für den Wiederaufbau der Ukraine nutzen?
Tietje: So einfach ist es wohl nicht. Die Konfiszierung russischer Privatvermögen halte ich für unzulässig nach der Europäischen Menschenrechtskonvention. Schließlich gewährt diese Eigentumsschutz, und zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Auch nachdem Russland nicht mehr Vertragspartei der Menschenrechtskonvention ist, bleiben russische Staatsangehörige, die sich im Territorium einer Vertragspartei wie etwa Deutschland aufhalten, von ihr geschützt.
Das heißt, die ganzen Yachten und Immobilien müssten irgendwann wieder freigegeben werden?
Vielleicht schon, sofern man den Eigentümern nicht die Unterstützung des Kremls und damit strafbare Handlungen nachweisen kann. Andernfalls müssen wir mit Entschädigungsansprüchen rechnen.
Das klingt nach viel Arbeit für die Konfliktlösungspraxen. Sie bekommen ja auch die Folgen der von Russland beschlossenen Gegensanktionen auf den Tisch …
Natürlich prüfen europäische Unternehmen und internationale Investoren, ob ihnen etwa bei Zwangsverwaltung und Enteignung ihrer Assets in Russland Entschädigungen zustehen – oder ob sie Kriegsschäden an ihren Anlagen in der Ukraine geltend machen können.
Gibt es denn einen Investitionsschutzvertrag mit Russland, auf den sich deutsche Unternehmen stützen können?
Nein, einen direkten deutsch-russischen Investitionsförderungs- und
Schutzvertrag gibt es nicht, aber den Vertrag von 1989 zwischen Deutschland und der damaligen Sowjetunion. Er hat weiterhin Bestand.
Welche Möglichkeiten haben die deutschen Unternehmen aktuell,
ihre Investitionen in Russland vor Willkür zu schützen?
Jedenfalls theoretisch besteht weiterhin normaler inländischer Rechtsschutz in Russland. Sofern eine Schiedsvereinbarung besteht, kommt auch ein internationales Schiedsverfahren in Betracht.
Hier wird jedoch die Vollstreckung eines Schiedsspruchs in Russland schwierig werden. Aber aufgrund der Sanktionspakete in den USA und Europa wären solche Mandate ohnehin problematisch, auch wenn sie nicht per se ausgeschlossen sind.
Das heißt, die internationale Schiedsrechtszene sitzt die Konflikte
besser bis nach dem Krieg aus?
Dann werden die Mandatsannahme und die rechtliche Einordnung
sicherlich leichter sein. Aber auch hier muss man die politische Entwicklung und damit die Gesetzgebung in Russland abwarten.
Auch russische Unternehmen bangen um ihre Investitionen im
Ausland. War die Treuhandanordnung der Gazprom-Tochter eine
zulässige Maßnahme aus Ihrer Sicht?
Sie war ein Sonderfall, denn sie fällt nicht unter das Sanktionsregime.
Dieses Modell geht nach dem neuen Energiesicherungsgesetz der Bundesrepublik.
Könnte Russland später dagegen klagen?
Russland als Staat nur in einer direkten Klage gegen die Bundesrepublik
vor einem internationalen Schiedsgericht. Die betroffenen Kapitaleigner könnten ebenso gegen die Bundesrepublik klagen, ergänzend zum innerstaatlichen Rechtsschutz. Das Problem ist hier, dass für die Treuhandanordnung Entschädigungsansprüche für ausländische juristische Personen ausgeschlossen sind. Diese Regelung ist durchaus problematisch.
Wie sieht es bei der Übernahme durch Kapitalmaßnahmen aus,
wie sie jetzt bei der Nachfolgeunternehmen der Gazprom Germany
zum Einsatz kam – wodurch das Unternehmen Security for
Europe in den Bestand der Bundesrepublik überführt wurde?
Bei solch einer Kapitalmaßnahme ist die Einschränkung der Entschädigungsansprüche für ausländische juristische Personen nicht mehr gegeben. Hier wurden angemessene Entschädigungen auch zugesagt. Gegebenenfalls könnte es zu Streitverfahren im Hinblick auf die Höhe der Entschädigung kommen.
Noch ein Streitfall im Zusammenhang mit Sanktionen: Die EU hat rund 300 Milliarden Euro an russischen Zentralbank-Reserven eingefroren. Ist das zulässig?
Eigentlich genießen Zentralbanken Immunität, aber ich denke, hier kann es als Gegenmaßnahme zu Russlands völkerrechtswidriger Aggression eingestuft werden. Ob das Einfrieren von Vermögen schon einer Enteignung gleichkommt, muss im Einzelfall angeschaut werden – gerade, wenn die Beschlagnahme über einen längeren Zeitraum erfolgt.
Dürfte das Geld vollständig eingezogen werden für Reparationszahlungen an die Ukraine?
Das halte ich für völkerrechtlich nicht möglich, denn sogenannte Countermeasures dienen dazu, den anhaltenden Völkerrechtsverstoß abzustellen. Sie wurden nicht konzipiert, um Reparationsansprüche zu erfüllen.
Das heißt, auch Gegenmaßnahmen unterliegen gewissen Restriktionen?
Ja, sie müssen wie die Sanktionen selbst zeitlich beschränkt sein – sie sollten nur so lange dauern, wie sich der Drittstaat nicht konform zu internationalem Recht verhält. Eine Konfiszierung und Weiterverwendung der eingefrorenen Devisen über das Kriegsende hinaus – etwa um den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren – käme nach meinem Dafürhalten rechtlich nicht in Betracht.
Und was wäre völkerrechtlich möglich?
Es müsste eine einvernehmliche, vertragliche Lösung ausgehandelt
werden, auch über die Begutachtung der Ansprüche und die Bemessung der jeweiligen Reparationen. Dabei könnte man sich orientieren an dem Iran-USA Claims Tribunal, das 1981 eingerichtet wurde und bis heute aktiv ist. Mit Blick auf Russlands Vorgehen hat das Europäische Parlament die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten schon aufgefordert, auf die Schaffung eines weitreichenden internationalen Kompensationsmechanismus hinzuarbeiten.
Das heißt, die EU muss nun erst einmal eine Struktur schaffen, über die eingefrorene Gelder verwaltet und später auch verteilt werden können?
Ja. Eine transparente Vermögensverwaltung und eine klug ausgehandelte Reparationsvereinbarung können schon viele dieser Konflikte abräumen. Daraus könnten sich Handreichungen ergeben, wie mit Ansprüchen und Reparationsforderungen verfahren werden soll. An diesen könnte sich ein Spezialgericht orientieren. Aber auch mit solchen Strukturen wird die Aufarbeitung dieses Krieges und der damit verbundenen Investitionsstreitigkeiten vermutlich Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Das Interview stammt aus der aktuellen Ausgabe 02/2023 des JUVE Rechtsmarkt.