Allen & Overy hat Aosphere im Jahr 2002 gegründet. Der Online-Rechtsdienstleister bietet juristische Fachinformationen, die im Abo etwa an Banken und Vermögensverwalter verkauft werden. Unter anderem geht es um international vergleichende Analysen zu regulatorischen Themen, etwa im Datenschutz und Kapitalmarktrecht.
Das Team umfasst nach eigenen Angaben mehr als 40 Experten. Häufig sind das bei Allen & Overy ausgebildete Anwälte, die die Plattform mit Informationen bespielen und dabei eng mit Partnerfirmen zusammenarbeiten. Aus Beteiligtenkreisen ist zu hören, dass dieses Geschäft mit 200 Millionen Pfund bewertet wird, umgerechnet 230 Millionen Euro.
Eine Summe, die aufhorchen lässt
Die Summe lässt aufhorchen. Dass ein Unternehmen mit 40 Mitarbeitenden so hoch bewertet wird, deuten Wettbewerber als weiteren Beleg für die Anziehungskraft von Geschäftsmodellen mit Legal Tech. Alles, was mit Legal Tech in Verbindung gebracht werden kann, scheint auf Investoren gerade einen besonderen Reiz auszuüben.
Das gilt insbesondere für Unternehmen, die mit künstlicher Intelligenz (KI) den Rechtsmarkt umwälzen wollen. Erst vor wenigen Monaten etwa stieg der Medienkonzern Thomson Reuters für 650 Millionen Doller bei dem Start-up Casetext ein, das einen KI-Assistenten auf Basis von ChatGPT entwickelt. Allen & Overy selbst gab im Frühjahr eine große Kooperation mit der KI-Plattform Harvey bekannt, die ebenfalls auf ChatGPT basiert. Und auch die Big-Four-Beratungsunternehmen haben milliardenschwere Investitionen geplant.
A&O-Shearman-Fusion als Dealbeschleuniger?
Auch wenn Allen & Overy an Aosphere beteiligt bleibt: Warum Allen & Overy ihren Dienstleister zumindest teilweise zu Geld macht, ist ein Gesprächsthema in vielen Großkanzleien. Die Millionen, die nun für Aosphere-Anteile fließen, sollen einer Mitteilung zufolge genutzt werden, um in neue Märkte zu expandieren, vor allem in die USA, und neue Produkte zu entwickeln. Eine JUVE-Anfrage dazu, ob der Erlös gänzlich in den Ausbau neuer Geschäfte fließt oder die Partnerschaft davon auch durch Ausschüttungen profitiert, ließ die Kanzlei unbeantwortet.
Viel wird im Markt darüber spekuliert, dass der Deal im Zusammenhang mit der bevorstehenden Fusion von Allen & Overy und Shearman & Sterling stehen könnte. Dieses Megaprojekt des globalen Rechtsmarkts dürfte ein hohes Maß an Management- und auch finanziellen Ressourcen erfordern. Dazu teilte die Kanzlei auf Anfrage mit: „Allen & Overy hat in den letzten Jahren Optionen geprüft und den Markt bewertet. Der geplante Zusammenschluss hat diese Diskussionen beschleunigt, ist aber nicht der Hauptgrund dafür. A&O ist jetzt der Meinung, dass es an der Zeit ist, mit einem strategischen Partner zusammenzuarbeiten, um das Wachstumspotenzial von Aosphere zu erschließen.“
Investor mit Rechtsmarkterfahrung
Mit Inflexion gewinnt Allen & Overy einen Partner, der im Rechtsmarkt kein Neuling ist. 2018 übernahm der 1999 in London gegründete Private-Equity-Fonds das Unternehmen Chambers and Partners, einen Anbieter von Kanzlei-Rankings. Erst kürzlich meldete ‚Mergermarket‘, Inflexion plane den Verkauf seines Portfolio-Unternehmens.
Aosphere-Chef Marc-Henri Chamay betont in einer Mitteilung: „Diese Partnerschaft bietet uns eine bedeutende Gelegenheit, unser Wachstum zu beschleunigen. Inflexion teilt unsere Vision, den Kunden die umfassendsten, zuverlässigsten und benutzerfreundlichsten rechtlichen und regulatorischen Informationen und Dienstleistungen anzubieten.“
Nicht alles ist ‚Legal Tech‘
Im Markt wird der Deal unterschiedlich bewertet: In Kanzleien, die selbst Legal-Tech-Produkte entwickeln, herrscht teils Erstaunen: Warum sollte eine Kanzlei ein erfolgreiches Unternehmen auf diesem Gebiet verkaufen, wo doch viele, die so etwas nicht zu bieten haben, froh wären, wenn sie es hätten?
Hier lohnt sich ein Blick in die Details. Aosphere ist ein Informations- und Datendienstleister. Verkauft werden Inhalte, keine Software. Mit anderen Worten: Es geht nicht um Legal Tech im engeren Sinne. Deshalb lässt sich Aosphere wohl auch relativ unkompliziert veräußern. Bei wirklichen Legal-Tech-Produkten, die Kanzleien wie Freshfields Bruckhaus Deringer, Hogan Lovells, aber auch Allen & Overy selbst entwickeln, wäre dies schon deshalb schwieriger, weil sie eng mit sensiblen Daten aus der Mandatsarbeit verwoben sind.
Längst nicht alle Kanzleien haben Ambitionen, selbst zum Software-Anbieter zu werden. Baker McKenzie zum Beispiel, die mit dem Legal-Tech-Hub ReInvent zu den Vorreitern in Deutschland gehörte, hat sich von dieser Idee verabschiedet. „Nachdem wir diese Initiative auf das globale Level gehoben haben, stieg die Komplexität des Themas erheblich – und wir mussten mit Blick auf Legal Tech grundsätzlich entscheiden: Make or buy?“, erinnert sich Dr. Matthias Scholz, IT-Partner und bis vor Kurzem Managing-Partner von Baker in Deutschland. Die Entscheidung, die bereits vor der Pandemie fiel, war klar: buy. „Allerdings kaufen wir keine Produkte von der Stange, sondern arbeiten mit Anbietern intensiv partnerschaftlich zusammen, um Tech-Tools auf die Bedürfnisse unserer Kanzlei und unserer Mandanten anzupassen.“
Wo Investoren helfen könnten
In einigen internationalen Großkanzleien, mit denen JUVE gesprochen hat, ist der Einstieg von Investoren selbst in das softwarebasierte Legal-Tech-Geschäft nicht undenkbar. Hat eine Kanzlei zum Beispiel digitale Lösungen für das Handling von Massenverfahren oder Anmeldungen von Fusionen in vielen Jurisdiktionen entwickelt, könnte es durchaus attraktiv sein, diese im größeren Stil zu vermarkten.
Dafür müsste ein technischer Support global ausgerollt werden – was einerseits substanzielle Investitionen erfordert und andererseits die Kanzleien noch einen Schritt weiter von ihrem Kerngeschäft entfernt. Beides könnte aus Sicht von Kanzleien dafür sprechen, einen Investor an Bord zu holen, der sich um diesen Part kümmert. Für Investoren wiederum könnten stetig sprudelnde Einnahmen aus einem umfangreichen weltweiten Wartungs- und Supportgeschäft interessant sein.