In der Vorinstanz hatte sich die Klägerin, die Baufirma und Lkw-Kundin Matthäi, vor dem OLG Stuttgart weitgehend durchgesetzt. Dagegen ging Daimler in Revision. Weil es der erste Fall aus dem Lkw-Kartell ist, der vom BGH entschieden wurde, kann sich die Entscheidung auf hunderte weiterer Schadensersatzprozesse auswirken. Wegen dieser herausragenden Bedeutung sind neben der Beklagten Daimler alle weiteren Lkw-Kartellanten nach dem aus ihrer Sicht gefährlichen OLG-Urteil als Streithelfer in das Verfahren eingestiegen. So kam es zu der ungewöhnlichen Konstellation, dass allein sieben BGH-Anwälte im Senatssaal plädierten.
Viereinhalb Stunden Karlsruher Krimi
Die Revisionsverhandlung dauerte denn auch viereinhalb Stunden – und war nach Aussage vieler Beteiligter ein Wechselbad der Gefühle. Sie begann so, dass den Beklagtenvertretern der versammelten Lkw-Industrie erst einmal mulmig werden musste. Prof. Dr. Peter Meier-Beck, der den Fall als Vorsitzender Richter zusammenfasste, klang nämlich nicht so, als ob er viel von ihren Verteidigungsargumenten hält.
Die sogenannte Kartellbetroffenheit? Kein Problem mehr nach dem Schiene-II-Urteil des BGH: Wer im Kartellzeitraum von einem Kartellanten Lkw gekauft hat, muss nicht noch gesondert nachweisen, dass jeder einzelne Erwerbsvorgang ausdrücklich von dem Kartell betroffen war. Eher müssten die Kartellanten nachweisen, dass es nicht so war.
Die Verjährung? War ab 2011 gehemmt, als die EU-Kommission Lkw-Hersteller durchsuchte – und nicht erst ab 2014, als sie offiziell das Kartellverfahren einleitete. Das ist gut für Kläger, denn je früher die Verjährung gehemmt wurde, desto mehr Ansprüche sind noch nicht verjährt.
Pass-on? Das ist eine entscheidende Frage in Kartellschadensersatzprozessen, nicht nur mit Blick auf Lastwagen: Hat die Kartellgeschädigte, in diesem Fall Baufirma Matthäi, den kartellbedingten Aufpreis einfach an die eigene Kundschaft weitergereicht? In dem Fall hätte sie selbst keinen Schaden und somit auch keinen Anspruch auf Schadensersatz. Die sogenannte Pass-on-Verteidigung gehört daher zum Standardrepertoire auf Kartellantenseite.
Machen Kartelle wirklich alles teurer?
Wie es im Lkw-Kartell ist und speziell im Fall Matthäi, ist eine der Fragen, über die erst die Urteilsgründe mehr Klarheit verschaffen können. Bisher sieht es danach aus, dass diese Verteidigung schon anwendbar ist – aber nur, wenn die Beklagten sie besser begründen können, als sie es im Fall Matthäi getan haben. Klar ist nur, dass sich das OLG Stuttgart erneut mit dem Fall befassen muss. Ob am Ende das gleiche Ergebnis mit anderer Begründung herauskommt, hängt auch ab von den sogenannten Segelanweisungen des BGH: also den Leitplanken, innerhalb derer das OLG den Fall erneut betrachten muss.
Die wichtigste Grundsatzfrage: Gibt es einen Erfahrungssatz, der lautet, dass aus einem Kartellverstoß ein Schaden folgt? Da kommt es auf die Feinheiten an. Bei einem bloßen Informationsaustausch ohne harte Preisabsprache, wie ihn das OLG Stuttgart angenommen hatte, kann man laut BGH nicht ohne Weiteres einen Schaden annehmen. Allerdings deutete der Vorsitzende Richter Meier-Beck Zweifel an, dass es im Lkw-Kartell tatsächlich nur um Informationsaustausch ging. Das OLG könnte also den falschen Sachverhalt zugrunde gelegt haben. Die banal und technisch klingende Frage, bei welchem Kartellverstoß von einem Schaden auszugehen ist, ist maßgeblich dafür, bei wem am Ende die Beweislast liegt: bei dem, der einen Schaden geltend macht oder bei dem, der sagt, beweise mir doch erst mal deinen Schaden? Das ist für die Erfolgsaussichten von Klägern und Beklagten ein entscheidendes Detail.
„Wir sind mit hängenden Ohren rausgeschlichen“
Die Urteilsgründe und auch der Fortgang des Verfahrens am OLG Stuttgart werden darüber vielleicht mehr Aufschluss bringen. Es werden, wie in den Großkomplexen Schienenkartell und Dieselskandal, weitere Urteile des BGH zum Lkw-Kartell erwartet. Dass im Fall Matthäi noch so viel unklar ist, ist für die Lkw-Bauer schon ein Erfolg. Ein Beklagtenvertreter sagt: „Nach der Verhandlung sind wir mit hängenden Ohren rausgeschlichen, weil wir dachten, wir bekommen eine Revisionsabweisung.“ Bei den Klägern war es umgekehrt: Da war schon Champagnerlaune ausgebrochen, bis zwei Stunden später die Mitteilung kam, dass der Senat der Revision stattgegeben hat.
Vertreter Rudolf Matthäi
Dr. Jörg Semmler (Karlsruhe; BGH-Vertretung)
Meyer Jansen Gussone (Berlin): Dr. Peter Gussone, Daniel Jansen (beide Kartellrecht)
Ide Schneider & Partner (Hamburg): Ulrich Ide
Vertreter Daimler
Rohnke Winter (Karlsruhe): Dr. Thomas Winter (BGH-Vertetung)
Inhouse Recht (Stuttgart): Miklos Mudrony (Legal Regulatory Compliance)
Gleiss Lutz (Stuttgart): Dr. Ulrich Denzel (Kartellrecht), Dr. Stefan Rützel, Dr. René Kremer (beide Litigation), Dr. Carsten Klöppner, Dr. Simon Wagner (beide Kartellrecht)
Vertreter MAN (Streithelfer)
Jordan & Hall (Karlsruhe): Dr. Reiner Hall (BGH-Vertetung)
Hengeler Mueller (Düsseldorf): Dr. Daniel Zimmer, Dr. Thorsten Mäger; Associate: Dr. Matthias Rothkopf (alle Kartellrecht/Litigation)
Vertreter Volvo/Renault (Streithelfer)
Mennemeyer & Rädler (Karlsruhe): Dr. Peter Rädler (BGH-Vertretung)
Freshfields Bruckhaus Deringer (Düsseldorf): Dr. Roman Mallmann; Associate: Dr. Jan Buschfeld (beide Litigation)
Vertreter Scania (Streithelfer)
Dr. Christian Zwade (Karlsruhe; BGH-Vertretung)
Allen & Overy (Hamburg): Dr. Ellen Braun; Associate: Dr. Lukas Rengier (beide Kartellrecht)
Vertreter DAF
Baukelmann Tretter (Karlsruhe): Dr. Norbert Tretter (BGH-Vertretung)
Noerr: Dr. Fabian Badtke (Kartellrecht; Frankfurt), Dr. Henner Schläfke (Litigation; Berlin)
Vertreter Iveco Magirus
Prof. Dr. Matthias Siegmann (Karlsruhe; BGH-Vertretung)
Buntscheck (München): Dr. Martin Buntscheck, Dr. Tatjana Mühlbach, Dr. Andreas Boos (alle Kartellrecht)
Vertreter Bundeskartellamt
Inhouse (Bonn): Jörg Nothdurft (Leiter Prozessabteilung)
Bundesgerichtshof, Kartellsenat
Prof. Dr. Peter Meier-Beck (Vorsitzender Richter), Prof. Dr. Wolfgang Kirchhoff, Dr. Jan Tolkmitt, Dr. Ulrike Picker, Dr. Johannes Berg
Hintergrund: Bis zur OLG Entscheidung waren von den Lkw-Kartellanten nur Daimler als Beklagte und MAN als Streithelferin an dem Verfahren beteiligt – beide vertreten von den Kanzleien, die bereits das Kartellverfahren vor der Kommission geführt hatten. Nach dem OLG-Urteil sind alle weiteren Lkw-Hersteller dem Verfahren beigetreten. Auch hier gab es bei den Vertretern keine Überraschungen. Im Hengeler-Team für MAN hat der kürzlich zum Partner ernannte Zimmer die Federführung für das Matthäi-Verfahren übernommen.
Eine entscheidende Rolle spielten die BGH-Anwälte. Allein Winter, der für die Beklagte Daimler im Einsatz war, plädierte rund eine Stunde am Stück als Erster, nachdem Richter Meier-Beck die Verhandlung eingeleitet und Gegenwind für die Lkw-Vertreter signalisiert hatte. Die Lkw-Bauer haben die für Kartellfragen renommiertesten Anwälte wie Winter, Hall, Rädler bereits rasch nach Abschluss des Verfahrens an sich gebunden, weil klar war, dass irgendwann Schadensersatzprozesse vor dem BGH landen würden. Jeder Kläger hat deshalb nur eine eingeschränkte Auswahl an BGH-Vertretern, da die allerersten Adressen bereits auf Beklagtenseite tätig sind.
Matthäi hatte die Klage über den Stammanwalt Ide eingereicht, der aber kein Kartellrechtler ist. Als die Erwiderung von Gleiss vorlag, zog das Bauunternehmen Gussone hinzu. Der war bis vor drei Jahren Partner bei Becker Büttner Held in Berlin, wo er bereits für Kartellschadensersatz zuständig war. Die Kanzlei Meyer Jansen Gussone hat im Lkw-Kartell eine Verbände-Geschädigten-Gemeinschaft gegründet, die Ansprüche von etwa 300 Unternehmen aus vier Branchenverbänden bündelt. Über diesen Verbund ist auch Matthäi auf die Kanzlei aufmerksam geworden – sie führt noch vier weitere Prozesse für das Verdener Unternehmen.