Für den zuerst als gerichtlichen Gutachter und dann zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellten Dr. Michael Jaffé wird eine entscheidende Frage sein, ob das Unternehmen seinen Geschäftsbetrieb fortsetzen kann oder nicht. Laut Wirecard laufen Anfang Juli insgesamt 1,3 Milliarden Euro an Krediten aus. Nach Informationen der Nachrichtenagenturen dpa und Bloomberg hatten die Banken Wirecard gerade erst einige Tage Aufschub gewährt, um die langfristige Überlebensfähigkeit des Unternehmens zu prüfen.
An der Börse kam es zu weiteren Panikverkäufen: Die Wirecard-Aktien hatten innerhalb der sieben Tage vor der Insolvenz bereits neunzig Prozent ihres Wertes verloren. Unter den Leidtragenden, die nun auf quasi wertlosen Papieren sitzen, sind sehr viele Kleinaktionäre ebenso wie der frühere Vorstandschef Markus Braun, der im Februar noch Großaktionär und Milliardär war. Das Unternehmen war in den vergangenen Tagen weniger als eine halbe Milliarde wert.
Aufklärung gefordert, Ermittlungen laufen
Die Anlegervereinigung DSW fordert rückhaltlose Aufklärung. Einschlägige Kanzleien, wie etwa Tilp sowie Dr. Greger und Collegen, fordern für Anleger Schadensersatz. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die den Jahresabschluss 2019 prüfte, geht von schwerer Kriminalität in quasi weltumspannendem Maßstab aus. Die Staatsanwaltschaft München I ermittelt wegen des Verdachts der Bilanzfälschung und der Manipulation des Börsenkurses gegen den ehemaligen Konzernchef Markus Braun und gegen dessen langjährigen Vertrauten Jan Marsalek.
Zunächst war Vorstandschef Braun zurückgetreten, drei Tage später räumte Wirecard dann die Luftbuchungen ein – die 1,9 Milliarden Euro, die angeblich auf philippinischen Treuhandkonten lagern sollten, existieren mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit″ nicht, wie der Vorstand formulierte. Braun kam für eine Nacht in Untersuchungshaft, wurde danach aber gegen Kaution von fünf Millionen Euro wieder auf freien Fuß gesetzt. Marsalek war bereits eine Woche zuvor als Vorstandsmitglied und COO suspendiert worden, die fristlose Entlassung von Braun und Marsalek folgte
Mögliches Aufsichtsversagen
Wirecard wickelt als Zahlungsdienstleister die bargeldlosen Geldflüsse zwischen Händlern auf der einen und Banken sowie Kreditkartenfirmen auf der anderen Seite ab. Die Aufklärung wird allein deshalb schwierig, weil sich ein wesentlicher Teil der Affäre in Südostasien abspielte: Zwei zentrale Figuren sind der ehemalige Wirecard-Finanzchef in Südostasien und ein Treuhänder, der bis Ende 2019 in Singapur für Wirecard aktiv war.
Ins Rollen gebracht hatte die Affäre die britische Financial Times, die Anfang 2019 über mutmaßliche Manipulationen in Singapur berichtete. Da es anschließend zu außergewöhnlichen Kursstürzen der Wirecard-Aktie an der Frankfurter Börse gekommen war, hatten die Finanzaufsicht BaFin und die Münchner Staatsanwaltschaft zuerst Untersuchungen eingeleitet, ob illegale Manöver von Börsenspekulanten dahintersteckten.
Vorläufiger Insolvenzverwalter
Jaffé (München): Dr. Michael Jaffé
Berater Wirecard
Noerr (Frankfurt): Dr. Holger Alfes (Bank- und Finanzrecht), Dr. Thomas Hoffmann (Insolvenzrecht; beide Federführung), Dr. Julian Schulze de la Cruz, Dr. Alexander Schilling (beide Bank- und Finanzrecht); Simone Schönen (Hamburg), Dr. Björn Grotebrune (München); Associate: Dr. Andrea Braun (alle Insolvenzrecht)
Gleiss Lutz (Stuttgart): Dr. Eike Bicker (Compliance), Dr. Michael Arnold (Gesellschaftsrecht); Associate: Marcus Reischl (Gesellschaftsrecht; beide Frankfurt) – aus dem Markt bekannt
Luther (München): Dr. André Große-Vorholt (Strafrecht) – aus dem Markt bekannt
Gibson Dunn & Crutcher (München): Dr. Ferdinand Fromholzer (Kapitalmarktrecht)
Inhouse Recht (Aschheim): Andrea Görres (General Counsel), Christoph Küster – aus dem Markt bekannt
Berater Wirecard Bank
Sernetz Schäfer (Düsseldorf): Prof. Dr. Frank Schäfer, Dr. Thomas Eckhold; Associate: Dr. Philipp Hardung (alle Bankaufsichtsrecht) – aus dem Markt bekannt
Berater Aufsichtsrat Wirecard
Clifford Chance (Frankfurt): Dr. Stefan Sax (Insolvenzrecht) – aus dem Markt bekannt
Berater Banken
Allen & Overy (München): Dr. Walter Uebelhoer, Dr. Franz-Bernhard Herding (Frankfurt; beide Bank- und Finanzrecht), Dr. Christopher Kranz; Associates: Oliver Köhler, Moritz Probst, Theodor Bezold (alle Frankfurt), Dr. Jörg Weber – aus dem Markt bekannt
Vertreter Markus Braun
Dierlamm (Wiesbaden): Prof. Dr. Alfred Dierlamm (Wirtschaftsstrafrecht) – aus dem Markt bekannt
Staatsanwaltschaft München I
Hildegard Bäumler-Hösl (Oberstaatsanwältin)
Hintergrund: Nach JUVE-Informationen wurde Jaffé zunächst als Gutachter und danach als vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt. Bei der Aufarbeitung hängt nun vieles davon ab, ob Wirecard an das Geld der eigenen Bank herankommt. Jaffé hat Erfahrung bei der Aufarbeitung von Luftgeschäften: Er ist Insolvenzverwalter der Kapitalanlagegesellschaft P&R, die nichtexistente Container vermietete und tausende Anleger betrog.
Noerr-Partner Hoffmann stellte den Insolvenzantrag und war mit seinem Team bereits zuvor damit befasst, mit den Banken zu verhandeln. Infolge des Vorstandsumbaus in der zurückliegenden Woche änderten sich zahlreiche Mandatierungen. Eine wesentliche Rolle dürfte bei den Beraterwechseln der neue Compliance-Vorstand James Freis gespielt haben. Freis war von 2014 bis Februar 2020 Compliance-Chef der Deutschen Börse und sollte ursprünglich Ende Juni dieselbe Funktion bei Wirecard übernehmen. Kurz nach seiner Ankunft wurde er zusätzlich Brauns Nachfolger als CEO.
Zuerst traf es die angesehene Strafrechtskanzlei Ufer-Knauer. Sie musste dem Vernehmen nach ihr Mandat an den in München etablierten Luther-Partner Große-Vorholt abgeben. Auch die Rolle von Gibson Dunn & Crutcher wurde eingeschränkt. Bis vor wenigen Tagen war die langjährige Beraterin noch in zentraler Position bei Wirecard engagiert, eine Rolle, die inzwischen Gleiss Lutz mit einem großen Team übernahm. Gleiss dürfte hier einmal mehr zugutegekommen sein – wie schon bei Cum-Ex-Fällen –, dass sie nicht vorbefasst war. (Astrid Jatzkowski, Markus Lembeck, Ludger Steckelbach; mit Material von dpa)
Wir haben die Meldung am 2. Juli aktualisiert.