Der Litigation-Boom, den die Finanzkrise vor 15 Jahren ausgelöst hat, wirkt bis heute fort. Erst kürzlich gab es einen Vergleich im KapMuG-Verfahren zur HRE, das Teams bei Tilp auf Kläger- sowie Gleiss Lutz und Sernetz Schäfer auf Beklagtenseite gut ein Jahrzehnt beschäftigt hat. Prozesspraxen geht aber auch ohne Finanzkrise die Arbeit nicht aus, dafür sorgen mehrere neue Krisen: Corona, Krieg und Klimawandel schaffen neue Konflikte – und damit eine nie erreichte Nachfrage nach Anwältinnen und Anwälten, die zu ihrer Lösung beitragen können.
Überall auf der Welt verzögern sich Projekte, Lieferketten reißen, Finanzierungen platzen – und Russlands Krieg gegen die Ukraine beschleunigt die Transformation der europäischen Energieversorgung. Das lässt sich an einer Zunahme großvolumiger Prozesse und Schiedsverfahren erkennen, etwa zu Preisanpassungen – was vor allem Praxen mit großem Know-how in der Energiebranche stark beschäftigt, darunter Linklaters, Freshfields Bruckhaus Deringer, Jones Day, Noerr, Luther oder Bird & Bird. In der ersten Reihe bei der Abwehr neuartiger Klimaklagen gegen Auto- und Energiekonzerne stehen zudem Clifford Chance, Morgan Lewis & Bockius, Sernetz und Gibson Dunn & Crutcher.
Technik trifft Masse – ein gigantischer Markt entsteht
Auch ohne den doppelten Schock von Krieg und Corona beschäftigen ausufernde Streitigkeiten eine große Zahl von Disputes-Praxen. Zentrale Rollen im Wirecard-Komplex spielen etwa Gleiss, Freshfields Bruckhaus Deringer, SZA Schilling Zutt & Anschütz, Allen & Overy, Noerr u. sicherlich bald Lutz Abel, nachdem sich das Litigation-Team von Wirsing Hass Zoller der Kanzlei angeschlossen hat. Dr. Michael Zoller vertritt EY u.a. bei der Abwehr von Anlegerklagen. Geschädigte formieren sich mit Tilp, Nieding + Barth, Pinsent Masons, aber auch etwa Luther, Ashurst und Görg. Schmitz & Partner, die den früheren Wirecard-CEO zivilrechtlich vertritt, ist durch die geplante und dann doch abgeblasene Fusion mit Massari Olbrich ihrerseits zum Marktereignis geworden.
Das einschneidendste Marktereignis dürfte jedoch die Gründung einer Einheit speziell für Massenklagen sein, für die Freshfields neue Büros in mehreren Universitätsstädten eröffnet hat. Auch andere Kanzleien haben sich organisatorisch auf ein Zeitalter Legal-Tech-gestützter Massenverfahren eingestellt, darunter CMS, Noerr, Hogan Lovells und Fieldfisher. Einen Schritt weiter sind bereits Frommer und Deloitte Legal: Gemeinsam haben beide Classreaction gegründet – die erste Kanzlei speziell zur Abwehr von Massenklagen. Neben Dieselfällen sind auch Wirecard, Onlinecasinos und Datenschutzverstöße Felder für Massenklagespezialisten. Um Schiedsverfahren kümmern sich derweil neben den Großkanzleien eine wachsende Zahl von Boutiquen wie Busse Disputes, Rothorn und Gantenberg, die jeweils schon kurz nach ihrer Gründung einen beachtlichen Eindruck im Markt hinterlassen haben. Es bräuchte also gar nicht die neue Verbandsklage mit erweiterten Klägerrechten, um festzuhalten: Die Welt mag eine Krise durchleben – für Disputes-Praxen aber gilt das Gegenteil.